Ferdinand von Schirach – Foto von Peter Rigaud

Immer wieder ist da die Schuld

Immer wieder ist da die Schuld

Das einzige Kriterium für Literatur, so sagt Ferdinand von Schirach in einem Interview, sei, ob sie uns berührt oder nicht. Seine Bücher erfüllen diese Anforderung. Da sind zunächst seine Erzählungen von Gerichtsfällen und Reflexionen über Recht und Gerechtigkeit, die der erfahrene Strafverteidiger so gekonnt nachdenklich verfasst hat und die unter anderem mit Moritz Bleibtreu fürs Fernsehen verfilmt wurden. Da sind seine Theaterstücke wie „Terror“ und „Gott“, die zu den meistgespielten der Gegenwart gehören. Oder die kleine, kluge Denkschrift „Jeder Mensch. Ein Vorschlag für neue Grundrechte“. Und nicht zuletzt die ganz wunderbaren Bücher „Kaffee und Zigaretten“ und „Nachmittage“, mit prägnant kurzen, eindringlichen Erzählungen in denen der Schriftsteller es mit solch großer Leichtigkeit schafft, auf ganz wenigen Seiten Figuren zu Persönlichkeiten werden zu lassen, in all ihrer Widersprüchlichkeit, Rätselhaftigkeit und Menschlichkeit. Nun also „Regen“, die theaterhafte Erzählung, mit der Ferdinand von Schirach selbst auf die Bühne geht und am 23. Oktober auch nach Freiburg kommt.

Und genau damit, mit diesem schmalen Werk, mit dem Ferdinand von Schirach als Autor und als Schauspieler die Bühnen betreten will, scheitert er an seinem selbst auferlegten, eingangs erwähnten Kriterium. Denn diese Erzählung berührt nicht. Das, was berühren könnte, versinkt in Geschwätzigkeit, das was der monologisierende Ausbruch eines Grantlers à Thomas Bernhard sein könnte, verliert sich in stammtisch­hafter Belanglosigkeit.

Über die „Anti-Raucher-Fraktion“ lässt Ferdinand von Schirach seinen Protagonisten in „Regen“ sagen: „Aber solche Leute gehen ja nie ins Restaurant. Die gehen auch nicht ins Café. Die gehen in die Natur, in den Wald und umarmen Bäume“. Über Sportler: „Der Sportler, das ist der moderne Mensch. Sie erkennen den modernen Menschen daran, dass er einen Ruck­sack trägt. Mitten auf dem Kurfürsten­damm trägt er seinen Ruck­sack, so, als wolle er zum Berg­steigen gehen. Dabei ist Berlin vollkommen flach, Berg­steigen in Berlin ist unmöglich. (…) Das sei praktisch und funktionell, sagt er. Ja, praktisch und funktionell sind auch das Selbst­bedienungs­restaurant und das Frühstücks­buffet, und dass Sie sich den Botticelli nur noch auf dem Laptop ansehen. Das Praktische und das Funktionelle und das Natürliche führen direkt in die Hölle.“

Ferdinand wird auf der Bühne stehen und selbst die Rolle des Mannes einnehmen, der aus dem Regen in einer Bar kommt und dort zu seinem Monolog ansetzt. Und das ist gut so. Denn nur das, die Ausstrahlung und die Stimme Ferdinand von Schirachs können einen mit diesem Text versöhnlich stimmen. Insofern bietet sich bei „Regen“ erstmals wirklich auch ein Hörbuch als Vorzug gegenüber dem gedruckten Werk an, denn der Autor liest seinen Text auch da selbst. Hinzu kommt, dass „Regen. Eine Liebeserklärung“ eine kleine Mogelpackung ist. Nur 50 Seiten machen den Monolog aus, der Luchterhand-Verlag hat im zweiten Teil des schmalen Buches ein nahezu gleich langes Interview abgedruckt, das der Journalist Sven Michaelsen geführt hat und das vor einem Jahr in leicht gekürzter Form im Magazin der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wurde. Und das übrigens ganz und gar offensichtlich als Vorlage und fast schon Blaupause für das Stern-Interview vom August diesen Jahres mit Ferdinand von Schirach diente. (Es lohnt sich also nicht, sich dafür extra den Stern zu besorgen.)

Das Interview im Buch ist ganz wunderbar, und es ist schön, es noch einmal in voller Länge zu lesen, gleichzeitig ist darin aber auch schon ganz vieles von dem enthalten, was Ferdinand von Schirach dann später in seinem „Regen“-Monolog in nahezu gleichem Wortlaut untergebracht hat. Im Interview verrät der Schriftsteller viel über sich, meint man zumindest, denn gleichzeitig hüllt er sich in ein einsames Geheimnis wie in einen beigen Trenchcoat, den er auf den aktuellen Plakaten für die Lesetour trägt, gleich einem Columbo oder Bogart. Erst spät hat seine Schriftstellerkarriere
begonnen, im Alter von 45 Jahren veröffentlicht er sein erstes Buch, da hat er schon eine außerordentliche Karriere als Strafverteidiger hinter sich. Angefangen in der Kanzlei von Otto Schily, verteidigte er unter anderem auch den DDR-Funktionär Günter Schabowski sowie einen ehemalige BND-Spion Norbert Juretzko, Industrielle, Prominente, die Erben von Klaus Kinski, aber auch Angehörige der Unterwelt.

Ferdinand von Schirach – Foto vomn Julia Selmann

Warum er so spät angefangen hat zu schreiben, oder wieder angefangen hat damit, nachdem er als Jugendlicher aufgehört hatte, erklärt er in besagtem Interview mit dem Scheitern seines Vaters und seiner eigenen daraus resultierenden Angst zu scheitern: „Später sagten mir seine Freunde, er (der Vater; Anm.d.Red.)sei seinem Wesen nach Künstler gewesen, aber ein Künstler ohne Werk. So etwas gibt es gar nicht so selten, und oft endet es tragisch. (…) Als er starb, hörte ich auf zu schreiben, weil ich nicht werden wollte, wie er war.“ Ohne eine „verletzende Uererfahrung“, so sagt er, ohne „die tiefe Erschütterung Ihrer Existenz“, könne man nicht schreiben „oder nur über die Blümchen auf der Wiese“.

Schuld und Vergebung – das ist das große Thema für Ferdinand von Schirach, das sich durch sein gesamtes Werk, ja durch sein Leben zieht. Im Interview sagt er: „Sehen Sie, wir können jedem vergeben. Den Eltern, Kindern, Geliebten, den Freunden und selbst den Feinden. Nur bei uns selbst geht das nicht, das ist unmöglich. Wir können uns nicht einmal verzeihen, weil niemand sich selbst eine Schuld erlassen kann, das kann nur der Gläubiger dieser Schuld.“

Im Stück „Regen“ liest sich das dann so: „Sehen Sie, wir können jedem vergeben. Unseren Eltern, unseren Kindern, unseren Feinden, unseren Freunden und selbst unseren Feinden. Nur uns selbst können wir nicht vergeben, das ist nicht möglich. Niemand kann sich selbst seine Schuld erlassen, das kann nur der Gläubiger tun.“

Welche Schuld es ist, der sich seine Protagonisten und auch er selbst ausgesetzt sehen, ist mannigfaltig und hat dennoch universellen Charakter. Bei „Regen“ ist es der Tod der geliebten Frau, des einen, des einzigen „Lebensmenschen“, von dem Ferdinand von Schirach auch sonst immer wieder schreibt und spricht. In seinem eigenen Sein hat sich beim Schriftsteller selbst vielleicht neben der Erfahrung als Strafverteidiger so etwas wie eine „Familienschuld“ tief eingenistet. Möglicherweise daran gekoppelt ist auch das Unumstößliche des lebenslangen Liebesverlusts. „Ich glaube sogar, in der Liebe kann es gar keine Übung geben. Dafür ist sie zu selten. Jedenfalls für mich“, sagt er im Interview im Buch. Und in einem früheren SZ-Interview von 2010, sagte er über seine Tätigkeit als Anwalt: „Bei Indizienprozessen möchte ich die Wahrheit oft nicht wissen.“ Einzig relevant sei da die Frage, ob das Material, das die Staatsanwaltschaft zusammengetragen hat, für eine Verurteilung reicht oder nicht. Diese Haltung spiegelt sich auch in seinen Erzählungen wider, im Verdeckten, Unausgesprochenen. So lässt er beim Lesen Raum für Mutmaßungen, für Unerklärlichkeiten, für das Widersprüchliche. Und oft genug gibt es da kein klares Richtig und Falsch, kein reines Gut und Böse, sondern entwickeln sich die Geschichten und Fälle mit den Persönlichkeiten, die vor den Lesern und Leserinnen behutsam aufgeblättert werden. Menschlich eben, manchmal verstörend, im tiefsten Sinne. Ferdinand von Schirach ist ein herausragender Schriftsteller, der es, wie nur ganz wenige andere, versteht, das Geheimnisvolle, Unerklärliche und Wunderbare in großer Klarheit und Ruhe auf wenigen Seiten niederzuschreiben.
Im besten Sinne ist auch er ein Zauberer. Wer immer eine seiner Lesungen erlebt hat, gehört hat, was der Schriftsteller zwischen der Lektüre Kluges, Nachdenkliches, Humorvolles, Dunkles und Erhellendes sagt, wird sich keine Chance entgehen lassen, diesen Menschen live zu sehen. In Freiburg gibt es noch einige wenige Tickets zu seinem Auftritt im Konzerthaus am 23. Oktober.

Wer ihn lesen möchte, sollte jedoch „Nachmittage“ oder „Kaffee und Zigaretten“ zur Hand nehmen, auch ein zweites oder drittes mal. In diese Bücher einzutauchen gleicht einem Rausch.


Ferdinand von Schirach,
Uraufführungstournee seines neuen Buches „Regen“

am 23. Oktober, 20 Uhr, im Konzerthaus Freiburg

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