Harald Lesch

Zeit ist nicht verfügbar und nicht beherrschbar

Zeit ist nicht verfügbar und nicht beherrschbar

Harald Lesch ist gerade mit seinen täglichen Yogaübungen beschäftigt, als zur vereinbarten Zeit sein Telefon klingelt. Dennoch ist er sofort für unser Gespräch bereit. „Bei Yoga muss man sich jederzeit stören lassen, natürlich“. lacht er entspannt. Der Astrophysiker, Naturphilosoph und Fernsehmoderator ist vielfacher Bestseller-Autor und seine Wissenssendungen sind längst Kult. Zusammen mit dem Zeitforscher Karlheinz Geißler und dem Zeit- und Organisationsberater Jonas Geißler hat er nun das Buch „Alles eine Frage der Zeit“ geschrieben (Oekom-Verlag, 20 Euro).

Ich dachte immer, bei Yoga muss man sich versenken und die Welt ausblenden…
Prof. Dr. Harald Lesch: (lacht herzlich) Ja, das übe ich auch immer wieder, aber so habe ich Yoga noch nie empfunden und auch noch nie praktiziert.

Machen Sie denn jeden Tag Yoga?
Harald Lesch: Ja, sehr lange schon und aus medizinischen Gründen. Es geht dabei um meinen Rücken. Ich habe mit 23 Jahren angefangen, als ich mal das Buch gelesen hatte, „Yoga mit Heilwirkungen“. Dadurch bin ich ein paar Zentimeter größer geworden. Seitdem bin ich ein nicht-spiritueller Yogi und mache diese Übungen einfach, weil sie mir gut tun. Und mit so einer Haltung kann man sich auch jederzeit stören lassen.

Gibt es denn irgendwelche Zeiten am Tag, an denen Sie sich absolut gar nicht stören lassen, durch wirklich gar nichts und niemanden?
Harald Lesch: Na, wenn ich schlafe natürlich (lacht). Also wenn nachts das Telefon klingelt, dann muss es etwas Katastrophales sein. Und es gibt Zeiten, in denen das Telefon einfach ausgeschaltet ist und ich nicht erreichbar bin.

In Ihrem aktuellen Buch gehen Sie zunächst auf die verschiedenen Krisen ein, die wir momentan mehr oder weniger bewusst durchleben. In der Bilanz sehen sie bei alledem einen gemeinsamen Faktor, und das ist die Zeit. Sie sagen, die lässt sich nicht beherrschen – und doch versuchen wir es ja ständig?
Harald Lesch: Es gibt ja verschiedene Zeitkulturen. Es gibt am Tag Momente, da denken wir gar nicht an Zeit und wie sie vergeht. Wenn es uns beispielsweise sehr gut geht, wenn man mit Menschen zusammen ist, die einem richtig etwas bedeuten. Es gibt andere Momente, da haben wir das Gefühl, die Zeit bleibt förmlich stehen, bei Nachrichten, die uns erschüttern. Man muss also unterscheiden zwischen dem, was die Uhr anzeigt und der erlebten Zeit. So ökonomisiert, wie wir alle nun mal sind, versuchen wir möglichst effizient zu sein und Zeit zu sparen, was natürlich nie gelingt. Denn man kann sie nirgendwo einzahlen oder Zeitzinsen bekommen. Die Zeit ist eben nicht nur die Bedingung, überhaupt zu sein, sondern sie ist eben auch überhaupt nicht verfügbar. Wir versuchen zwar, sie dazu zu machen, in dem wir sie messen oder darstellen, aber in Wirklichkeit ist sie eine absolut unverfügbare Ressource. Und auch wenn wir sie zu Geld oder einer Handelsware machen, bleibt sie das große Rätsel des Universums. Das ist auch der Grund, warum insbesondere Physiker die Zeit hassen, weil sie sich einfach nicht so verhält, wie wir es gerne hätten.

Nun hat man ja das Gefühl, wir leben in einer zunehmend schnelllebigen Zeit.
Harald Lesch: Wir tippen auf unser Smartphone, und zack – haben wir eine Hose bestellt. Aber die Entscheidungen in der Politik dauern manchmal monatelang.  Koalitionsverhandlungen, Entscheidungen der Stiko zur Kinderimpfung, alles dauert Wochen und Monate – wieso können die sich eigentlich nicht genauso schnell entscheiden, wie ich mich für eine Hose? Wir haben unterschiedliche Wahrnehmungszeiten, unterschiedliche Reaktionszeiten. Und die Zeit-ist-Geld-Variante ist eigentlich die allerschlimmste. Denn sie macht aus uns nur noch ökonomische Objekte, dabei lassen wir unsere Würde fallen.

Sie selbst haben kein Smartphone und haben mal festgestellt, dass sie dadurch gegenüber ihren Kollegen vier Stunden sparen, also einen Zeitgewinn haben. Ist das denn nun nicht ein Widerspruch, wenn sie sagen, Zeit sei nicht verfügbar?
Harald Lesch: Zeitgewinn heißt, ich habe Zeit für Dinge, die ich allein entscheide. Ich organisiere nicht und kommuniziere nicht währenddessen. Ich bin nicht eingebunden in irgendwelche Prozesse, bei denen ich hinterher nicht weiß, was ich getan habe, sondern ich kann genau das tun, was ich will. Vielfach wird ja beklagt, dass man keine Zeit mehr hat für Dinge, die einem wichtig sind. Die sogenannten Sachzwänge sind natürlich auch Zeitzwänge. Die entstehen natürlich stärker, je mehr man zugriffsfähig und verfügbar ist. Verfügbar sein heißt vor allen Dingen im Onlinebetrieb zu sein. Die Kommunikationsmöglichkeiten bedeuten viel Ablenkung von all den Dingen, auf die man sich eigentlich mehr konzentrieren möchte. Ich habe also mehr Konzentrationszeit zur Verfügung.

Sie geben sich eine Stunde pro Tag, um Ihre Mails zu checken…
Harald Lesch: Nach genau 60 Minuten klingelt die Uhr und dann wird zugemacht. Ich habe eine scharfe Regulierung, denn ich mache ja nichts, was nicht auch morgen erledigt werden könnte. Ich bin kein Herzchirurg und keine Hebamme. Die Zeitkultur von Wissenschaft ist eine von Wochen oder Jahren, manchmal Jahrzehnten. Das heißt, ich muss mich auch nicht anstecken lassen von der Hysterie in meiner Umgebung, sondern kann mich in meinem eigenen Zeitfluss aufhalten. Wenn ich sehe, dass Astronomen – also Leute, die sich mit Dingen beschäftigen, die Lichtjahre von uns entfernt sind – so tun, als müsste unbedingt noch heute, am besten jetzt eine Antwort kommen, dann kann ich mich nur zurücklehnen und lachen. In Wirklichkeit ist es so, dass die meisten Menschen in einer Zeitkultur leben, in der sie nicht hektisch sein müssten. Aber wir tun immer so, weil die Ökonomisierung uns Termine und Fristen setzt, noch schlimmer im Englischen: deadlines, also Todeslinien.

Sie schreiben, die Zeit begann, als der Kosmos noch kleiner war als ein Atom. Kann man sich Zeit seitdem als Dominoeffekt vorstellen? Etwas passiert, daraufhin passiert das nächste, und so weiter?
Harald Lesch: Gute Idee! Ja, den Begriff kann man nehmen, Dominozeit. Das eine ist die Voraussetzung für das, was danach kommt. In der Physik würde man auch sagen, Zeit ist das Maß für Veränderung. Und deshalb sieht man in der Kosmologie, der Wissenschaft vom ganzen Universum – einem Teil der Astronomie – eine Verbindung zwischen der Temperatur des Universums und seinem Alter. Wenn etwas größer wird, dann wird es kühler, je jünger etwas ist, desto heißer ist es. Je älter also das Universum wird, desto kälter wird es. Nun ist es schon knapp 14 Milliarden Jahre alt und deshalb hat es schon eine sehr niedrige Temperatur.

Wenn Wissenschaftler forschen, sehen sie meist Einzelaspekte, die ja aber nicht in das wirkliche Ganze integriert sind. Ist das der Grund, warum Forschung immer etwas hinterher hinkt?
Harald Lesch: Das kommt ganz darauf an. Die technologischen Dinge, die längst in unserem Alltag Eingang gefunden haben, wie Elektronik, der Umgang mit elektromagnetischen Wellen, der Laser beim Augenarzt oder die medizinischen Bildgebungsverfahren, das sind ja alles technologische Erfindungen, die aufgrund von Grundlagenforschung, wie zum Beispiel aus der Physik, überhaupt nur zustande gekommen sind. Ohne diese Grundlagenforschung im Labor, also in der Isolation, im Experiment, hätte man diese ganzen Technologien gar nicht erfinden können. Insofern gibt es den technischen Fortschritt, mit dem sind wir zum Teil dem Alltag voraus. Ich habe gerade eine Sendung für „Leschs Kosmos“ gemacht, da geht es um neue medizinische Bildgebungsverfahren. Sie machen sich keine Vorstellungen, was es da bereits für Möglichkeiten gibt, da treten einem die Tränen in die Augen, auch wenn man sieht, zu was heute die Chirurgie in der Lage ist, Dank modernster Computertechniken. Das ist der wissenschaftliche Fortschritt. Zum anderen, und da haben Sie recht, ist alle Wissenschaft eine Hinterherbetrachtung, wenn wir etwas betrachten, was es schon gibt, Phänomene, die schon da sind und die wir zu erklären versuchen. Aber gute wissenschaftliche Theorien machen sich dadurch bemerkbar, dass sie nicht nur etwas erklären, was wir schon kennen, sondern dadurch, dass sie etwas vorhersagen, was wir noch nicht wissen und was man im Experiment oder in der Beobachtung überprüfen kann. Das heißt, wir wollen nicht nur die Vergangenheit damit erklären, sondern zugleich auch etwas verstehen, was wir noch nicht kennen. Wir machen eine Vorhersage und schauen, ob sich diese bestätigt. Die aktuellen großen physikalischen Theorien, die wir kennen und für die es auch Nobelpreise gibt, das sind die ganz großen Gewinner, weil alle ihre Vorhersagen sich bestätigt haben. Die Liste der Nobelpreisträger ist also praktisch die Champions League. Und dann sind da die Theorien, die verloren haben, weil sich ihre Vorhersagen nicht einstellten. Und wenn Sie nun an die ganz große Herausforderung Klimawandel denken, da betreffen die Vorhersagen etwas, was wir gar nicht mögen, nämlich diese Kipppunkte, also dass alles komplett umkippt. Und da sind wir wieder beim Thema Zeit: das komplette Umkippen eines Glas Wasser das am Tischrand steht oder eben das Umkippen des Klimas, von einer Erde mit angenehmen Temperaturen, in eine mit einer deutlich unangenehmeren klimatischen Situation.

Beim Umkippen beschreiben Sie auch den Peak, da nennen Sie das Jahr 2006. War das eine universale Jahreszahl, an der alles gekippt und nun irreversibel ist?
Harald Lesch: Wir sehen ja seit längerem, dass sehr viele Ressourcen zur Neige gehen. Das heißt nicht, dass sie jetzt gleich verschwinden, sondern das heißt, es sind keine neuen Lagerstätten mehr entdeckt worden und bei den alten Lagerstätten wird es immer schwieriger die Rohstoffe herauszuholen. Wir müssen uns also überlegen, wie können wir mit Produktentwicklung, technologischer Entwicklung und Rohstoffen innerhalb von Recyclingkreisläufen umgehen. Damit wir nichts mehr verlieren, sondern wichtige Ressourcen bei uns behalten. Ich will ein einfaches, banales Beispiel nennen: Brandenburg ist ein sehr trockenes Bundesland. Und dieses Bundesland exportiert Wasser. Dort wird Wasser aus dem Boden gepumpt und in die Flüsse geleitet, die es in die Nordsee bringen. Das ist keine gute Idee für ein Land wie Brandenburg, das sollte kein Wasserexportland sein. Eigentlich müsste dort alles dazu beigetragen werden, dass sämtliche Abflüsse, beispielsweise aus dem Braunkohlebau, in Brandenburg bleibt. Es sollte also ein Rücklaufsystem geben, so dass kein Wasser verschwindet.
Wir pumpen alles mögliche aus der Erde heraus und lassen es in die Meere abfließen, beispielsweise auch Phosphat. Stattdessen müssten wir uns viel mehr Gedanken über die Verluste machen. Nur so können wir einen Bogen schaffen, heraus aus der Einbahnstraße mit den Schäden, die wir durch unsere Technologien anrichten. Und dafür brauchen wir wieder Wissenschaft.

Sie schreiben, je vielfältiger und komplexer ein System ist, desto besser kann es sich stabilisieren und desto unangreifbarer ist es. Das gilt beispielsweise für das Ökosystem. Aber inwieweit trifft das auch auf die Zeit zu?
Harald Lesch: (Lacht) Nehmen wir mal an, Sie wären – entschuldigen Sie den Ausdruck – eine Korinthenkackerin. Sie möchten, dass alle in Ihrer Umgebung die Zeit immer in gleicher Form und gleicher Geschwindigkeit nutzen. Ob es um den Schlaf geht, ob es jemandem gut oder schlecht geht, ob man isst oder trinkt. Für alles gilt ein klarer Tagesablauf, 22 Minuten fürs Mittagessen, 21 Minuten fürs Frühstück, 23 Minuten fürs Abendessen, vier Minuten für den ersten Toilettenbesuch, sechs Minuten für den zweiten, und so weiter. Das wäre eine totale monomanische, technische Zeit. Nur eine einzige Zeitform. Sie können sich vorstellen, dass Sie damit im sozialen Verband ziemliche Probleme bekämen. Weil sich andere Menschen nämlich ganz andere Zeiten nehmen für Essen, Trinken und was auch immer. Mit der monomanischen Zeit, der Monokultur, kommt man also nicht weit. Ökonomie fordert von uns eine Art von Monokultur, in dem sie uns immer wieder vor allem in Zeiträumen der Fristen unter Druck setzt. Wenn Sie aber Zeiten am Tag haben, an denen Sie einfach mal Zeit verplempern, gedanklich schlendern, herumschauen und gar nix machen, ohne Zeitmessgerät, dann haben sie vielfältige Zeiten am Tag, Mal müssen Sie schnell sein, mal können Sie langsam sein. Dann sind Sie viel widerstandsfähiger gegenüber äußerem Druck.

Da unsere Gesellschaft aber spätestens seit der Industrialisierung relativ monoman tickt, mit fest geregelten Arbeitszeiten, sind wir dadurch angreifbarer?
Harald Lesch: Aber klar, natürlich. Vor allem wenn sich die Bedingungen ändern, dann sind genau diese Zeit-Monokulturen, diejenigen, die zuerst zusammenbrechen. Das sind dann die Menschen, die zuallererst die großen Probleme damit haben, wenn sie aus diesen Zeitkulturen herausgerissen werden. Das haben wir ja bei der Corona-Pandemie erlebt. Diejenigen, die immer schon flexibel gearbeitet haben, für die Homeoffice normal war, die konnten sich doch relativ gut anpassen. Alle anderen hatten ein riesiges Problem, denn sie waren eine bestimmte Zeitkultur gewöhnt. In der Flexibilität von Zeit sieht man in der heutigen Resilienzforschung einen unglaublichen Vorteil. Wann immer Sie die Möglichkeit haben, optional zu reagieren, etwas auszuprobieren, was einem am besten etwas nutzt, umso besser in der Reaktion auf und bei der Anpassung an veränderte Bedingungen. Alle diejenigen, mit nur einer einzigen Zeitkultur, haben die allergrößten Schwierigkeiten damit. Und das könnte im übrigen auch der Grund für Radikalisierungstendenzen in der Gesellschaft sein. Die Vielfalt der komplexen Moderne löst Ängste bei vielen Menschen aus, die eigentlich am liebsten in einer ganz klar geordneten Welt leben, wo es eine Zeitkultur gibt, wo es ganz klar ist, sonntags um zehn Uhr geht man in die Kirche, danach passiert das und das, dann das und das. Diese klaren Vorgaben, die offenbar viele Menschen haben wollen, führt bei einem Angebot von Vielfalt mindestens zu Unruhen, wenn nicht sogar Angst und Ungewissheit, was immer den Selbstwert bedroht, Kontrollverlust und Unüberschaubarkeit bedeutet. Und dies führt zu einer Tendenz, sich zu radikalisieren. Wenn wir als Gesellschaft tatsächlich wieder besser aufeinander zugehen wollen, dann brauchen wir mehr Zeit, um miteinander zu reden. Und wir brauchen überhaupt wieder mehr Zeit., um anderes wahrzunehmen. Und aktuell lässt uns die Beschleunigung, die unter anderem durch die digitalen Medien sowie die sozialen und asozialen Plattformen entsteht, gar keine Zeit mehr. Da müssen wir sofort eine Meinung haben, wir müssen sofort wissen, was richtig und was falsch ist. Wir müssen uns sofort entscheiden, entweder du bist vegan oder du bist böse, entweder du bist Vegetarier oder du bist ganz böse. Was, du isst noch Fleisch und rauchst? Um Gottes Willen, da müssen wir dich gleich hängen. Das geht heute so schnell bei der Meinungsbildung und führt letzten Endes auch dazu, dass Zeitkulturen aufeinander prallen. Die einen wollen unbedingt eine kontrollierte Zeit haben, die anderen wollen Vielfalt, auch in der Zeit. Das Merkwürdige ist ja, wir machen Urlaub dort, wo die Zeit anders läuft, als bei uns. Das ist doch irre! Und wenn man sich zurück erinnert, wann waren denn die tollen Zeiten? Dann war das doch, als man über die eigene Zeit verfügen konnte. Die Zeit, in der man sagen konnte, rutsch mir doch den Buckel runter, ich mach jetzt mal was anderes. Meine These ist, dass sehr viel mehr Menschen freie Zeiträume zur Verfügung haben, als sie ihn sich selbst nehmen. Stattdessen hämmern sie sich unglaublich viel Irrsinn aus dem Internet in die Birne, um dann irgendwelchen Verschwörungstheorien zu glauben. Auch das hat damit zu tun, dass man sich nicht mehr die Zeit nimmt, sich wirklich mit der Welt auseinander zu setzen. Im Grunde gibt es sehr viele verschiedene Möglichkeiten, sich mit Zeit zu verhalten, auch da, wo alle immer sagen, das geht ja gar nicht. Doch, das geht, natürlich. Gerade wenn man die gefühlte Zeit mal außer Acht lässt und die objektive Zeitverwertung anschaut, dann sieht man, wir haben richtig viel Zeit, wir hatten noch nie so viel Zeit wie heute.

Aber geht es hierbei nicht auch um Rhythmus und Takt? Der Rhythmus der Natur und der vom Menschen vorgegebene Takt?
Harald Lesch: Na klar, genau. Wenn wir rhythmisch leben, dann passt es und hat Luft. Es wiederholen sich Dinge periodisch, aber es gibt immer Spielräume. Mal kommt man etwas später, mal etwas früher, mal geht man etwas schneller, mal langsamer, man isst ein bisschen mehr, dann etwas weniger. Aber wenn Ihnen eine Uhr ganz genau sagt, dass Sie heute erst 9.800 Schritte gegangen sind, und Sie sich nur dann wohlfühlen und in Ruhe zu Bett gehen können, wenn Sie 10.000 Schritte gegangen sind, und Sie sich dann tatsächlich noch aufmachen und noch 200 Schritte gehen, nur weil Ihnen dieses blöde Armband so etwas sagt, dann sehen Sie, in was für Zeiten wir leben. In der Zeit vor Corona hat mir der Portier eines großen Hotels erzählt, wie viele Leute um das Hotel herumrennen, nur weil ihnen ihre Applewatch gesagt hat, du hast noch 3.000 Schritte zu gehen. Und es ist nicht so, dass die sich dann miteinander unterhalten, sondern die marschieren um das Hotel herum wie Soldaten und telefonieren währenddessen noch mit jemandem und machen den nächsten Geschäftsabschluss. Das ist doch bekloppt, sich von diesen digitalen Diktatoren dermaßen drangsalieren zu lassen. Aber diese Leute finden das offenbar ganz toll, weil sie hier eine klare Ansage bekommen, und wenn sie die erfüllt haben, dann sind sie ein guter Mensch. Unter zehntausend Schritte ist der Mensch einfach kein Mensch.

Sie selbst liefern das Gegenbeispiel. Sie forschen, unterrichten Studierende, moderieren Wissenschaftssendungen, sie schreiben Bücher, die allesamt auf den Bestsellerlisten landen und haben dabei…
Harald Lesch: Zeit! (lacht) Für die meisten Menschen, die mit mir zu tun haben, abgesehen von meiner Frau, ist es ein Rätsel, wie ich das hinbekomme. Dann heißt es, das gibt es doch nicht, ist der Tag bei dir länger oder was? Und dabei bin ich entspannt und gelassen.

Aber Ihre Frau hat den Trick durchschaut?
Harald Lesch: Meine Frau weiß wie es ist. 90 Prozent Transpiration und zehn Prozent Inspiration. Der Lesch ist ein unglaublicher Freund von Idylle und Ritualen. Der muss sich wohlfühlen und hat seinen Rhythmus. Ich spiele morgens Klavier, mache Yoga und habe viele Sportarten für mich entdeckt. Das ist mir ganz wichtig. Ich sitze also nicht vor dem Computer und schaue mir irgendwelche Emails oder Newsfeeds an, ich bin nicht in dem Strom der dauernden Informationsaufnahme. Ich bin ein großer Fan des Deutschlandfunks, diese Informationen morgens und abends, das ist für mich wichtig. Ich verehre den Deutschlandfunk, alles andere kommt da nicht ran. Und ich lese auch Zeitung, aber das ist es dann auch.
Bleiben Sie großzügig, bleiben Sie wohlwollend – dies sind Eigenschaften, die dafür sprechen, sich Zeit zu lassen. In unserem Buch gibt es den Teil von Jonas Geißler, in dem er die Aufzeichnungen von todkranken Menschen wiedergibt, Das Buch heißt „The Regret of the Dying“ (von der Palliativbetreuerin Bronnie Ware auf deutsch erschienen unter dem Titel „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“; Anm.d.Autorin) und sollte ein Bestseller sein. An der Stelle musste ich echt heulen: „Wenn ich mir mehr Zeit für die Liebe genommen hätte, ich hätte nicht so viel arbeiten sollen, ich wünschte, ich hätte mir erlaubt glücklicher zu sein“. Da merkt man, es geht um etwas ganz, ganz anderes. Das sollten wir uns klarmachen: Wir stehen mitten im Leben, das so schnell zu Ende sein kann. Und wie wichtig es ist, Dinge zu machen, die einem selbst wichtig sind.

Bild: Nils Schwarz

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