Manfred Quiring

Blenden, täuschen, lügen

Blenden, täuschen, lügen

Der langjährige Sowjetunion- und Russland-Korrespondent Manfred Quiring, der alle Wechsel im obersten Staatsamt live in Moskau miterlebte, hat mit seinem Buch „Russland – Auferstehung einer Weltmacht“ ein umfassendes, überaus kenntnisreiches und Augen öffnendes Werk über das Großmachtstreben Putins geschrieben. Barbara Breitsprecher sprach mit dem Russland-Kenner über die Ziele Putins, die Haltung des Westens und die Gefahr eines Atomkriegs.

In Ihrem aktuellen Buch zitieren Sie einen Ihrer Kollegen, den britischen Russland-Experten Keir Giles, mit dem Satz, „Je ängstlicher sich Russlands Nachbarn fühlen, desto sicherer fühlt sich Russland“. Geht es in diesem Ukraine-Krieg also vor allem um Gefühlslagen?

Manfred Quiring: Ja und nein. Natürlich ist die Gefühlslage ganz wichtig. Die russische Führung – und da nimmt sie ihre Bevölkerung ganz gut mit – leidet unter dem Zusammenbruch der Sowjetunion, immer noch. ‚Wir waren eine Weltmacht und wir wollen wieder eine werden‘, das ist die Grundthese, nach der Putin und der Kreml handelt. Dazu muss also die Einflusssphäre, die damals existierte, wiederhergestellt werden. Insofern geht es über das eigentliche Gefühl hinaus. Transportiert wird dieses aggressive Verhalten nach außen hin aber über diese Gefühlslage, ‚Wir sind schlecht behandelt worden, wir sind die Opfer der Geschichte.‘ Das ist natürlich keine reale Beschreibung der Welt, sondern die Beschreibung des russischen Empfindens. Das gilt aber nicht für die progressiven demokratischen Kräfte in Russland. Es gibt durchaus eine Spaltung in der Gesellschaft. Nur leider nicht in dem Maße, wie wir es uns wünschen würden.

Bedingt solch ein Großmachtgedanke zwangsläufig, dass angrenzende Staaten als ‚Objekte‘ gesehen werden und nicht als souveräne Staaten?

Manfred Quiring: Das folgt daraus ziemlich zwangsläufig. Es gibt in der russischen Politischen Wissenschaft – die für meine Begriffe eine Pseudowissenschaft ist – einen Grundsatz: Es gibt auf der ganzen Welt vier bis fünf echt souveräne Staaten. Alle anderen Länder sind das nicht und so werden sie denn auch behandelt.

Und welches sind aus russischer Sicht diese souveränen, unabhängigen Länder?

Manfred Quiring: Da zählt natürlich Russland dazu, China, – die USA wurde in diesem Zusammenhang nicht genannt, aber das billigt man ihnen schon zu – und dann vielleicht Indien noch. Das changiert auch immer mal. Und nur diese „souveränen Staaten“ sind es aus russischer Sicht auch würdig, dass man sie auf Augenhöhe behandelt. Dass Deutschland nicht dazu gehört, das versteht sich von selbst.

Glauben Sie, es gibt einen grundlegenden, strategischen Plan, wie Russland wieder zur Großmacht werden will? Oder sind es mehr „Gelegenheiten“, die sich zur Übernahme ergeben, wie beispielsweise bei der Krim-Annexion?

Manfred Quiring: Es gibt diesen großen Gedanken, ‚Wir müssen wieder Weltmacht werden‘. Aber wenn man heute fragt, warum führt Russland Krieg in der Ukraine? Dann bekommt man von russischer Seite mindestens sechs bis acht unterschiedliche Antworten. Es wird also je nach Gelegenheit gehandelt und wenn es möglich ist, wird zugeschlagen. Die Krim war so ein Fenster der Möglichkeit. Die Zentralmacht in Kiew war zu der Zeit schwach, es gab die Maidan-Demos und Janukowitsch (der damalige Präsident der Ukraine ; Anm.d.Red.) war aus dem Land verjagt worden. Nun heißt es, das Nahziel sei die Beseitigung des Faschismus in der Ukraine, gemeint ist die jetzige Führung. Aber darüber hinaus machten der ehemalige russische Präsident und jetzige Chef des russischen Sicherheitsrates Medwedew und russische Kommentatoren immer wieder darauf aufmerksam, dass die eigentlichen „Sponsoren des Faschismus“ in der Ukraine in Westeuropa und in den USA sitzen. Wenn sich also die Gelegenheit ergibt, so meine Interpretation, wird man sich auch diesen „Faschisten“ zuwenden. Es gibt diese Aussage der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, – die wirklich großartig in ihrer direkten Verlogenheit ist – man müsse offensichtlich „die rhetorische Frage stellen, wie umfassend und vollständig der Entnazifizierungsprozess in Deutschland“ gewesen sei.

Wenn man Ihr Buch „Russland – Auferstehung einer Weltmacht liest“, das erstmals vor zwei Jahren erschienen ist und nun in Neuauflage herauskommt, hat man unweigerlich das Gefühl, dass all das, was jetzt gerade in der Ukraine passiert, vorhersehbar war. Als Russland im November vergangenen Jahres seine Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschieren ließ, waren Sie sich da sicher, dass dies mehr als nur eine Drohgebärde war und sie einmarschieren würden?

Manfred Quiring: Ich muss da mit Kasparow (der russische Schachweltmeister; Anm.d.Red.) antworten, der sagte: vom Verstand her ja, vom Herzen her nein. Ich habe es nicht wahrhaben wollen. Das war mehr eine emotionale Sache, denn ich wusste ja, dass sie zu allem fähig sind, auch militärisch. Aber ich hatte immer noch diese Hoffnung. Eigentlich bis zu dieser Sicherheitsratssitzung am 21. Februar, da war für mich die Messe gesungen. Bis dahin hatte ich gedacht, dass ich dieser Bande, ich nenne sie jetzt so, alles zutraue, aber sie sind auch Täuscher und Trickser. Aber nach dieser Rede, nach dieser abgründigen Veranstaltung war klar, dass wir mit dem Schlimmsten rechnen müssen.

„So bedauerlich das klingt, aber ich bin im Moment auch der Ansicht, dass man jetzt spätestens Stärke zeigen muss. Auch den Willen zum Einsatz von Stärke.“

Nach dem Kalten Krieg war der Pazifismusgedanke für uns selbstverständlich. Man hat es abgelehnt „den Russen“ als den pauschalen Feind anzusehen, gegen den man aufrüsten müsste. Müssen wir da jetzt wieder umdenken und uns wieder bis an die Zähne bewaffnen, um uns zu schützen?

Manfred Quiring: So bedauerlich das klingt, aber ich bin im Moment auch der Ansicht, dass man jetzt spätestens Stärke zeigen muss. Auch den Willen zum Einsatz von Stärke. Da droht uns der russische Außenminister Lawrow mit einem Atomkrieg, wenn wir uns nicht zurückhalten. Das ist eine Anmaßung sondergleichen. Und der SPD-Abgeordnete Mützenich antwortete darauf zunächst, dass es ein Irrweg sei, schwere Waffen zu liefern und viel wichtiger sei, Fluchtkorridore zu schaffen. Da bemerke ich auf deutscher Seite und insbesondere bei den Sozialdemokraten eine eklatante Realitätsverweigerung.

Und klingt es nicht auch danach, als habe man die Ukraine als souveränen Staat aufgegeben?

Manfred Quiring: So ist es. Und das finde ich ein ganz, ganz übles Zeichen. Das kann es nicht sein. Es kann nicht sein, dass eine Großmacht sich nimmt, auf was sie einen Anspruch erhebt. Ich bin entsetzt, was so als Gegenmaßnahmen vorgeschlagen wird, das ist dermaßen lächerlich und Feigheit vor dem Feind.

„Putin ist ein typischer Geheimdienstmann. Und das Schlimme ist nicht nur, dass er diese Attitüde weiter entwickelt hat, sondern auch, dass seine gesamte Umgebung aus dem gleichen Holz geschnitzt ist. Und das entscheidende ist, dass alle zusammen eine Methode haben. Und diese Methode heißt: blenden, täuschen, lügen.“

Nun steht ja aber die Gefahr eines Atomkrieges im Raum. Kann Putin auch deshalb so glaubhaft Angst verbreiten, weil wir ihn nicht mehr einschätzen können? Früher hieß es ja immer, Putin sei so belesen und gebildet, doch jetzt wirkt er irrational und unberechenbar. Macht ihn das noch gefährlicher?

Manfred Quiring: Also die Einschätzung von Putins Belesenheit habe ich, ehrlich gesagt, nie geteilt. Putin ist ein typischer Geheimdienstmann. Und das schlimme ist nicht nur, dass er diese Attitüde weiter entwickelt hat, sondern auch, dass seine gesamte Umgebung aus dem gleichen Holz geschnitzt ist. Und das entscheidende ist, dass alle zusammen eine Methode haben. Und diese Methode heißt: blenden, täuschen, lügen. Wir wissen eigentlich nie was er will, denn selbst wenn er die Wahrheit sagt, wissen wir nicht, ob es wirklich die Wahrheit ist. Er hat sich für mich inzwischen zu einem Menschen entwickelt, dem man von vorne bis hinten nicht trauen kann und dem man alles zutrauen muss. Was ist also die nächste Eskalationsstufe? Taktische Atombomben? Das halte ich für möglich. Wenn ihm das in den Sinn kommt, dann wird er das tun. Man muss sich von der Illusion trennen, dass unser Handeln im Westen Putin zu bestimmten Gegenhandlungen oder Verzichtshandlungen bewegen kann. Putin entscheidet selber, wann der Atomkrieg ausbricht, und zwar wenn ihm das passt. Es kann durchaus sein, dass er, wenn er Mariupol nicht einnehmen kann bis zum 9. Mai (ein wichtiger Feiertag in Russland, an dem der Sieg über Nazi-Deutschland gefeiert wird; Anm.d.Red.), eine taktische Atombombe aufs Stahlwerk wirft. Was ich damit sagen will, der Dritte Weltkrieg beginnt nicht als Reaktion auf etwas was der Westen tut, sondern er beginnt dann, wenn Putin es beschließt.

„Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Putin gegen Westeuropa vorgehen wird, wenn sich die Gelegenheit bietet. Und wir müssen bereit sein, Maßnahmen zu treffen, die weh tun.“

Das alles macht einen ja noch ohnmächtiger und hilfloser. Ist dann nicht das Mindeste, was zu tun wäre, sofort auf russische Öl- und Gasimporte zu verzichten?

Manfred Quiring: Sie stellen genau die richtige Frage. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Putin gegen Westeuropa vorgehen wird, wenn sich die Gelegenheit bietet. Und wir müssen bereit sein, Maßnahmen zu treffen, die weh tun. Wir können das ja auch stufenweise machen: Das Geld für das Gas kommt auf ein Sperrkonto, dann wird er als nächstes das Gas abstellen. Die Industrie verweist zu recht darauf, wie gefährlich ein Gas-Importstopp für unser Wirtschaftssystem ist. Das hat sie aber selber so mit geschaffen. Jetzt muss sie versuchen mit den Konsequenzen zu leben und sich etwas einfallen lassen, ist meine Ansicht. Wir müssen uns klar machen: Putin führt einen heißen Krieg mit Waffen, das wollen wir nicht, aber dann müssen wir wenigstens bereit sein, einen Wirtschaftskrieg zu führen. Andernfalls rückt er weiter vor und wird irgendwann im Tiergarten spazieren gehen.

Im Moment sucht die deutsche Regierung aber noch einen moderaten Weg für sich in diesem Krieg. Aber ist es nicht ausgeschlossen, dass Deutschland ungeschoren davon kommt, auf die eine oder andere Art?

Manfred Quiring: Aber absolut. Ich kann diese Versuche, den Schaden für Deutschland möglichst klein zu halten, auch überhaupt nicht nachvollziehen. Der Schaden wird so und so eintreten. Worum es jetzt, in diesem Moment geht ist: Putin darf nicht siegen in der Ukraine. Wenn wir uns nur um Fluchtkorridore bemühen, dann haben wir einen Aggressor gestärkt. Und das halte ich für den gröbsten Fehler in der jetzigen Situation.

Aber ein Autokrat, der so tickt wie Putin, kann und darf ja nicht verlieren. Er ist ja auch viel zu sehr verstrickt in seine eigene Propaganda. Sehen Sie die Möglichkeit, dass er in seinem Land gestürzt wird?

Manfred Quiring: Die halte ich nicht für allzu realistisch. Er hat ja in den 20 Jahren seiner Herrschaft verstanden, so ziemlich alles zu beseitigen, was in irgend einer Form als Opposition bezeichnet werden kann. Ich glaube auch nicht, dass in Russland ein Systemwechsel von unten stattfinden wird. Das einzige, was vorstellbar wäre, ist, dass die Militärs nicht mehr mitspielen wollen.

Wäre das aber wahrscheinlich nur der Fall, wenn es zu große Verluste gäbe?

Manfred Quiring: Nein, die Verluste stören nicht. Die sowjetische und die russische Armee hat immer mit Verlusten gelebt und ihre großen Siege immer mit massenhaft Verlusten an Menschenleben errungen. Aber wenn der Bestand der Armee in Gefahr geraten würde, auch durch wirtschaftliche Probleme, dann könnte ich mir vorstellen, dass Putin als derjenige gesehen wird, der sie kaputt macht. Es gibt einen Aufruf der Allrussischen Offiziersversammlung, einem Veteranenverband, vom Februar gegen Putin. Der Chef dieses Verbandes, Generaloberst Iwaschow, war ein knallharter Falke im russischen Militär und ist jetzt im Ruhestand. Aber er ist immer noch Chef der Akademie für Geopolitische Probleme. Sein Aufruf gipfelt darin, dass Putin zurücktreten soll. Was verwundert ist, dass dieser Text nach wie vor auf der Webseite der Offiziersversammlung steht. In diesem Aufruf steht klipp und klar: Wir haben keine Gefahrensituation durch die NATO, es gibt keine äußere Bedrohung für Russland, das, was in der Ukraine gerade vorgeht, ist der Versuch innere Probleme Russlands zu lösen.

Und Putin würde es nicht wagen, gegen Iwaschow vorzugehen?

Manfred Quiring: Iwaschow hat ein gutes Standing unter den Generälen, würde Putin gegen ihn vorgehen, hätte er ein Problem.

Hätte der Westen auf die Annexion der Krim 2014 und dem Kampfeinsatz der Russen in Syrien 2015 schärfer reagieren müssen, rückblickend gesehen?

Manfred Quiring: Absolut. Das Mindeste, was hätte passieren müssen, zumindest auf deutscher und europäischer Seite, hätte sein müssen, dieses unsägliche Nord Stream 2-Projekt sofort und ohne große Diskussion abzusetzen. Das wäre zumindest schon mal ein Signal gewesen. Mehr aber auch nicht, denn die Gasströme laufen ja, auch ohne Nord Stream 2. Jetzt wäre ein totaler Stopp nötig, denn ich bin, bei allem Großmacht-Gerede, der Überzeugung, dass Putin ohne diese Finanzströme seine Truppe nicht lange bei der Stange halten können wird.

Dieses Narrativ vom „Wortbruch“, dass die NATO sich nicht an Garantien bezüglich von Waffen an der russischen Grenze gehalten habe, wurde auch von westlichen Medien immer wieder aufgegriffen. Kommt daher das Verständnis, das viele lange für das russische Gebaren hatten?

Manfred Quiring: Ich bin auch erstaunt, – und manchmal dann auch wieder nicht – wie zäh sich so ein Mythos hält, der nichts ist als ein Mythos. Weder hat es dieses Versprechen gegeben, noch gibt es eine Bedrohung durch die NATO. Solange sich die russische Führung schwach fühlte, erweckte sie den Anschein, als wollte sie sich dem Westen annähern. Was sie aber nur unter dem Preis getan hätte, wenn sie bekommen hätten, was sie wollte, nämlich Einfluss auf die ehemaligen Sowjetrepubliken.

Ist also alles irgendwie zurückzuführen auf das Trauma Ende der Sowjetunion, Ende der Großmachtstellung? Und hat die Bevölkerung dieses Großmachtstreben quasi als Ersatz für die eigene Armut oder schlechtere Lebensqualität angenommen?

Manfred Quiring: Das ist es teilweise sicher. Inzwischen ist der Lebensstandard jedoch deutlich höher, als er in der Sowjetunion je war, das weiß ich aus eigener Anschauung. Aber dieser Großmachtgedanke herrscht in Russland seit der Zarenzeit vor. Im 19. Jahrhundert galt der Spruch, „Russland existiert als Großmacht oder gar nicht“. Und das hat sich bis heute erhalten. Es wurde aber von Putin ganz bewusst in die Bevölkerung hinein getragen und verstärkt. Und er hat das benutzt, um seine Machtposition zu stärken.

Haben Sie Verständnis dafür, dass Selenskyi Steinmeier ausgeladen hat? Immerhin war der damalige Außenminister Steinmeier 2019 maßgeblich am Sonderstatus beteiligt, der den Separatistengebieten in der Ostukraine zugestanden wurde.

Manfred Quiring: Da kam wahrscheinlich ein ganzes Bündel, vielleicht auch an emotionalen Gründen zusammen. Zum einen hat Steinmeier den denkbar schlechtesten Ruf in der Ukraine, wegen seiner Rolle als Außenminister beim Minsker Abkommen. Die Russen bekamen damals einen Beobachtungsstatus und waren an nichts schuld. Das war das Grundübel für meine Begriffe. Das hat man Steinmeier nie verziehen. Hinzu kam die weiche Linie, die zunächst von der jetzigen Bundesregierung bezüglich der schweren Waffen gefahren wurde.

Inwieweit spielt die russisch-orthodoxe Kirche in diesem Krieg eine Rolle?

Manfred Quiring: Sie ist einer der gedanklichen Täter. Sie hat dazu aufgerufen, diese „Militäroperation“, wie die Russen den Krieg in der Ukraine ja nennen, umzubenennen in die„Heilige Militäroperation“. Das erinnert an den „Heiligen Krieg“, der „Große Vaterländische Krieg“ gegen Nazi-Deutschland. Heute wird ein Abklatsch produziert, der aus den Ukrainern deutsche Nationalsozialisten macht und aus einem Überfall eine „heilige“ Kriegsaktion. Es stimmt alles vorne und hinten nicht, aber die Kirche macht dieses Spiel mit und befördert es.

Würden Sie es begrüßen, wenn Europa und die USA aktiv in diesen Krieg eingreifen würde?

Manfred Quiring: Erstens bin ich dafür, dass Waffen geliefert werden. Und zweitens, ob das jetzt ein aktives Eingreifen in diesen Krieg ist oder nicht, das entscheidet der Herr im Kreml, so wie er es sehen möchte. Der Krieg hat 2014 begonnen, mit der Annexion der Krim und der russischen de facto Besetzung der Gebiete in der Ostukraine. Und alles was dann folgte, war eine Reaktion auf die russische Aggression. Und das wird in Russland gerne unter den Tisch gekehrt. 2013 haben die Amerikaner ihren letzten Panzer verschifft und aus Europa fortgeschafft. Da glaubte Putin in ein Loch stoßen zu können.

„Es ist eine Milchmädchenrechnung zu sagen, je weniger wir uns engagieren, desto besser kommen wir aus der Sache raus. Das ist ein Trugschluss. Wir kommen aus dieser Sache mit Leisetreterei nicht mehr raus.“

Kann man jetzt eigentlich nur noch etwas falsch machen? Wenn man Waffen an die Ukraine liefert, wird Putin vielleicht zum Atomkrieg herausfordert, und umgekehrt wenn er die Ukraine einnimmt, bestärkt ihn das, und wohin das führt, wissen wir alle nicht.

Manfred Quiring: Es ist eine total verfahrene Sache, da stimme ich Ihnen zu. Es ist eine Milchmädchenrechnung zu sagen, je weniger wir uns engagieren, desto besser kommen wir aus der Sache raus. Das ist ein Trugschluss. Wir kommen aus dieser Sache mit Leisetreterei nicht mehr raus. Das ist meine tiefe Überzeugung. Es gibt einen wegweisenden Artikel von RIA Nowosti (die Russische Agentur für internationale Informationen; Anm.d.Red.), den ich übersetzt habe, in dem es darum geht, was mit der Ukraine geschehen soll. Und da wird deutlich, dass erstens ein Abschlachten der Führung vorgesehen ist, da die nicht mehr umerzogen werden könne, und zweitens die ukrainische Bevölkerung über eine ganze Generation umerzogen werden soll sowie drittens will man sich die Urheber des Nazissmus in der Ukraine vornehmen, die demnach in Europa und den USA sitzen sollen. Das wird da sehr deutlich gesagt.

Und dieser Artikel spiegelt tatsächlich die Meinung der russischen Führung wider?

Manfred Quiring: Absolut. Zum einen ist RIA Nowosti eine Staatsagentur, wenn dort Artikel erscheinen, dann nur mit Billigung wenn nicht im Auftrag der Führung. Außerdem finden sich im Artikel viele Äußerungen, die schon Medwedew und Putin auch geäußert haben. Das bietet uns eine Vorstellung von dem, was sich vollzieht, wenn man Putin gewähren lässt. Ich möchte noch einmal auf die Fluchtkorridore zurückkommen. Natürlich sind diese wichtig, um Menschen zu retten! Nur, die deutsche Regierung hat keinen Einfluss darauf, ob es Fluchtkorridore gibt oder nicht.

Man merkt in unserem Gespräch deutlich, das Thema lässt sie nicht kalt.

Manfred Quiring: Ich bin lange in diesem Land gewesen, ich habe dort Freunde, die schreiben mir, wie entsetzt sie sind. Ich stehe im ständigen Austausch mit ihnen, sie liegen mir sehr am Herzen. Und wenn ich das dann lese, wird mir schlecht.
(Manfred Quiring liest aus einer Nachricht eines desillusionierten russischen Freundes vor, in der dieser unter anderem darum bittet, kein Verständnis mehr für die sogenannte geheimnisvolle russische Seele zu haben, da sich an ihrer Stelle nun eine tiefe, finstere Grube der stumpfen Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer finde. Anm.d.Red.)

Cookie Consent mit Real Cookie Banner