Zeiten­wende für Europa

 Zeiten­wende für Europa

Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen grenzen unmittelbar an Russland, beziehungsweise Belarus. Wie groß ist hier die Angst vor einem russischen Angriff? Darüber und über die komplexen politischen Zusammenhänge sprach Barbara Breitsprecher mit Dr. Reinhard Krumm, dem Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Baltischen Staaten mit Sitz in Riga. Der Historiker und Journalist leitete zuvor das FES-Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden in Europa mit Sitz in Wien und das Referat Mittel- und Osteuropa in Berlin, war für die FES-Büros in Moskau und Berlin tätig und über mehrere Jahre Russland-Korrespondent für Spiegel, Tagesspiegel und die Deutsche Presseagentur.

Sie leben und arbeiten seit einem halben Jahr in Riga. Wie sehr hat sich die tägliche Situation dort seit dem Krieg in der Ukraine verändert?

Reinhard Krumm: Der Krieg ist in jeder Hinsicht spürbar. Die drei baltischen Länder grenzen ja eng an Russland. Die Bevölkerungen hier fühlen sich sehr solidarisch mit der Ukraine und haben das Gefühl, der Ukraine passiert hier etwas, was ihnen selbst 1940/41 auch geschehen ist – also Einmarsch und Okkupation Konvois mit Medikamenten und Hilfsmitteln werden an die ukrainische Grenze gebracht, um zu helfen, die Bereitschaft Flüchtlinge aufzunehmen ist groß und es gibt viele Kundgebungen der Solidarität. Riga, Tallinn und Vilnius sind gelb-blau beflaggt. Die Situation wird in allen drei baltischen Staaten sehr, sehr ernst genommen.

Sollte die Ukraine besiegt werden, sehen Sie für ein weiteres Land die konkrete Gefahr als nächstes von Russland angegriffen zu werden?

Reinhard Krumm: Von der Rhetorik her haben wir alle seit langem verstanden, dass es von russischer Seite eine hohe Konzentration auf die Ukraine gibt – auch wenn die allerwenigsten einen Krieg erwartet haben, der die völlige Unterwerfung der Ukraine vorsieht. Für den Kreml ist es immer wichtig gewesen, die Ukraine und auch Georgien, Moldau, Aserbaidschan und Armenien sowie Belarus – also die geographischzwischen der EU und Russland gelegenen Staaten – unter eine gewisse Einflusssphäre zu bringen. Doch inzwischen geht es offensichtlich um mehr  – eine Art Vereinigung der Länder Ukraine und Belarus sowie, man mag es kaum glauben, vielleicht noch die nördlichen Teile Kasachstans. Das scheint ein Prozess zu sein, der auf die Gedanken  eines Aufsatzes des Literatur-Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn aus dem Jahr 1990 zurückgeht. In dem schreibt er dass  es das Zielsein müsste, eine solche Vereinigung zu realisieren, um einen wahren russischen Staat zu bewahren. Die baltischen Staaten sind nicht Teil dieser Idee. An den baltischen Staaten hat Russland sich immer abgemüht als eine Region, die sehr lange unter deutscher Verwaltung standen, auch innerhalb des russischen Zarenreiches. Nach dem 1. Weltkrieg erlangten die Staaten ichre Unabhängigkeit bis zum Pakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion und sie gezwungen wurden, Teil der Räterepublik zu werden. Seit 1990 sind die Länder nun erneut unabhängig, sie sind Mitglieder der EU und der NATO. Insofern würde ich Ihre Frage, ob es ein Ziel der russischen Regierung sein könnte, auch hier anzugreifen, erst einmal verneinen. Aber leider ist es nicht auszuschließen, ob es zu irgendwelchen Provokationen kommen.

Lettland hat mit 26 Prozent einen relativ hohen Anteil an der russischsprachigen Bevölkerung, gleichzeitig hat das Land 2012 beschlossen, dass Russisch keine zweite Amtssprache werden soll. Die russische Minderheit in der Ukraine wurde ja als Argument von Putin für den Angriff benutzt, könnte Gleiches nicht ebenso für Lettland gelten?

Reinhard Krumm: Ich bin Historiker, die schauen gern zurück und ungern nach vorne, deshalb kann ich nur mit aller Vorsicht antworten. Sie haben Recht, dass es hier eine nicht unerhebliche russischsprachige Minderheit gibt, sowohl in Lettland als auch in Estland, in Litauen weniger. Insgesamt geht es vor allem darum, dass ein Teil der russischen Minderheit keinen Pass hat, weder einen russischen noch einen lettischen, was die Bürgerrechte einschränkt. Diese “Nicht-Bürger” haben weniger Rechte. Kritik richtet sich gegen diesen neuen rechtlichen status quo, weil er eigentlich nur als Zwischenstation zur vollständigen Einbürgerung dienen sollte.Gleichwohl hat dieser Zustand Vorteile, denn er ermöglicht den betroffenen Menschen sowohl in die EU als auch nach Russland reisen zu können.

Wie geht das ohne einen Pass?

Reinhard Krumm: Diese Menschen haben ein anerkanntes Dokument für die Ausreise. Zudem sind ihre Rechte durch lettische Gesetze gesichert, sie sind keine “Staatenlose”. Russland, aber auch die EU, fordern die beiden Länder Estland und Lettland immer wieder auf, ihre russischsprachigen Minderheiten nicht zu diskreminieren. Die Gesetzgebung dazu ist schon mehrfach verändert worden. Auch beobachte ich im Alltag, dass der Gebrauch der russischen Sprache kein Problem ist. Abgesehen davon, dass die jüngere Generation dieser Sprache kaum noch mächtig ist. Wobei abzuwarten ist, wie sich das in den nächsten Wochen und Monaten nach diesem Krieg entwickeln wird.

Lettland hat im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Deutschen gegen die Rote Armee gekämpft. Könnte das wiederum zum Nazivorwurf führen, den Putin auch gegen die Ukraine vorgebracht hat?

Reinhard Krumm: Lettland hat in den vergangenen Jahrzehnten viele sehr unterschiedliche Momente gesehen: Tel des Zarenreiches, unabhängig, sowjetische Okkupation, deutsche Okkupation, erneute sowjetische Okkupation und dann erneut die Unabhängigkeit. Daraus ergaben sich unterschiedliche Prioritäten, um zu überleben. Jedes Jahr am 16. März veranstaltet der lettische SS-Veteranenverband in Lettlands Hauptstadt Riga einen zahlenmässig immer kleiner werdenden Marsch. Das war für Russland immer unerträglich, und natürlich auch für die EU. Denn auch in Riga hat die SS gewütet, jüdische Menschen ermordet. Auf der anderen Seite gibt es an jedem 9. Mai dann die andere Demonstration, an dem Russland den „Tag des Sieges“ feiert. Für Lettland folgte freilich auf den Sieg die erneute sowjetische Okkupation. Hier treten die Widersprüche deutlich zutage. Die Entwicklung in den letzten dreißig Jahren zeigen, dass viele russischsprachige Bürgerinnen und Bürger sich als Balten verstehen. Vor allem geographisch. Sowohl  in Estland als auch in Lettland befinden sich die russischsprachigen Landesteile oftmals im Osten, besonders in Estland. Dort befürchtet die Regierung  Provokationen. Meines Wissens sind die bisher aber nicht eingetreten, auch nach der Annexion der Krim war es relativ ruhig dort.

Lettland hat zu Russland eine 200 Kilometer lange Grenze. Der Spiegel hat berichtet, dass sich die Letten dort auf einen Partisanenkrieg vorbereiten. Haben Sie davon etwas mitbekommen?

Reinhard Krumm: Nein, überhaupt nicht. Ich habe davon auch in Gesprächen nichts gehörtgehört. Gleichwohl nimmt die Besorgnis zu.

Die lettische Regierung hat für einen kompletten Importstopp von russischem Öl und Gas plädiert. Halten Sie das für mutig oder eher für wenig vorausschauend?

Reinhard Krumm: Bei solchen Erwägungen kommen wir immer wieder auf Max Weber zurück, also auf die Ethik der Moral und auf die der Verantwortung. Moralisch gesehen ist so ein Stop  völlig nachvollziehbar und sogar wünschenswert. Wenn man aber zum Ende hinschaut, dann sagen Militär- und Wirtschaftswissenschaftler, dass Russland diese Devisen jetzt nicht unbedingt braucht, um das Militär weiter zu finanzieren. Ob diese Gleichung – wir stoppen den Gas- und Ölimport und Russland wird den Angriffskrieg beenden – tatsächlich so aufgeht, ist fraglich. Wir setzen voraus, dass in der russischen Führung das Denken auf dem Kosten-Nutzen-Prinzip basiert. Ganz offensichtlich ist das nicht so. Aber es ist völlig klar, dass nun nach Alternativen gesucht werden muss. Das fällt zusammen mit dem Ziel, weniger Energie zu nutzen.

Was halten Sie von der Drohung, dass Nato-Konvois, sollten sie zu nah an die russische Grenze kommen, unter Umständen beschossen würden?

Reinhard Krumm: Das ist erst einmal eine Drohgebärde, bei der es mich gewundert hätte, wenn sie nicht von russischer Seite gekommen wäre. Wir müssen unbedingt darauf achten, dass die Nato nicht Teil dieses Kampfes wird. Und die Definitionshoheit darüber sollten wir haben und nicht den Russen überlassen. Wir müssen unbedingt auf das Ende schauen, respice finem. Der bisherige Ansatz, ein Mittelweg, muss fortgesetzt werden:  unbedingt die Ukraine zu unterstützen gegen den Aggressor und gleichzeitig eine territoriale Ausweitung des Krieges zu unterbinden. So schwer das moralisch auch zu verkraften ist, aber die Verantwortung willl es so,  weil wir sonst nicht mehr die Konsequenzen kontrollieren. Bisher ist die Kampfmoral der russischen Armee gering, eben weil der Grund des Krieges unklar ist. Sollte die NATO eingreifen, so würde sich das schlagartig ändern und der Präsident im eigenen Land als der Prophet gepriesen werden, der Russland rechtzeitig zur Verteidigung vorbereitet hätte gegen den aggressiven Westen. Das wäre, wohlgemerkt, die russische Lesart.

Die USA und weitere Länder rechnen verstärkt mit russischen Cyberangriffen. Würde das auch Ihre Arbeit tangieren?

Reinhard Krumm: Es kommt darauf an, wie gezielt ist solch ein Cyberangriff, ob er auf eine  Organisation abzielt oder auf eine strategische Infrastruktur.. Ich glaube nicht, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung im Baltikum ein direktes Ziel ist, dafür sind wir in diesem Konflikt viel zu unwichtig.

Wie sieht Ihre Tätigkeit vor Ort in dieser angespannten Situation aus?

Reinhard Krumm: Mein Tageswerk zum einen ist mit Journalisten wie Ihnen zu sprechen. Das ist wichtig und gut so und dafür bedanke ich mich auch bei Ihnen für Ihr Interesse. Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist sozialdemokratisch, entsprechend haben wir Schwerpunkte gesetzt im Bereich der Sozialpolitik. Die Menschen hier wollen wie überall einen fairen Lohn bekommen, faire Mieten zahlen, sich auf eine ordentliche soziale Absicherung verlassen können. Man darf nicht vergessen, dass diese Länder hier eine sehr, sehr harte Transformation durchgemacht haben im Zeichen von Margret Thatcher, Ronald Reagan, also des Washington Consensus. Die Resultate sind bekanntermassen sehr beeindruckend. Aber eben auch sozialpolitisch sehr belastend. Jetzt ändert sich das, vielleicht auch durch Corona, da der Staat gemerkt hat, dass er für seine Bürger sich mehr ins Zeug legen muss.. Und natürlich reden wir auch über Sicherheit. Ich komme gerade aus Talinn und habe mit führenden Expertinnen und Experten der dortigen Think Tanks gesprochen. Was ist das sicherheitspolitische Ziel, kurz-, mittel- und langfristig. Und umgekehrt möchte man hier wissen, wie tickt Deutschland nach der „Zeitenwende“. Wir werden versuchen, junge Abgeornete ins Baltikum zu bringen, um Gespräche zu führen. Eine Generation, die den Kalten Krieg nicht mehr erlebt hat, der für diese Staaten so prägen war.

Der US-Politik-Berater Robert Kagan hat in der Washington Post prognostiziert, dass es die Ukraine bald nicht mehr als unabhängigen Staat geben werde, und dass China die derzeitige Lage ausnützen werde, um Taiwan anzugreifen. Teilen Sie diese düstere Einschätzung?

Reinhard Krumm: Der Neokonservative Robert Kagan ist bekannt dafür, dass er in klaren Worten denkt. Und natürlich ist das tatsächlich ein mögliches Szenario. Aber es gibt auch viele andere Szenarien. Andere Experten meinen, dass China gar nicht so schnell handeln möchte, sondern viel Zeit hat. China ist ein Land, das sehr ruhig und besonnen nach vorne schaut. Das ganze Land hat in den vergangenen Jahren sehr viel durch die Globalisierung gewonnen, und die Frage ist, brauchen sie diese wie bisher oder sind sie inzwischen in der Lage, sehr vieles alleine machen zu können? Je mehr sie alleine machen können, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit dessen, was Herr Kagan voraussagt. Die Beziehung zwischen Russland und China ist keine einfache. Für China ist die momentane Entwicklung in der Ukraine nach den oben genannten Gründen nicht gut.

Angesichts des Angriffs auf die Ukraine besteht eine große Hilflosigkeit. Keiner weiß, in welche Richtung sich das entwickelt. Dieses ohnmächtige Zuschauen ist ja eine furchtbare Situation…

Reinhard Krumm: Sie haben völlig recht. Für die Ukraine ist jeder Tag ein Tag an dem viele Menschen obdachlos werden, im schlimmsten Falle sterben. Aber für uns als Beistehende ist es auch schwierig, weil wir unruhig sind, wir möchten viel mehr tun und wissen nicht genau was. Und wenn wir etwas tun, dann hat das höchstens einen lindernden Effekt, aber keinen, der wirklich etwas ändert in Richtung eines Endes des AngriffkriegesDeshalb ist es so wichtig klare Ziele zu definieren. Zunächst die Stärkung der ukrainischen Armee, solidarische Unterstützung der Flüchtlinge aus dr Ukraine, aber auch aus Belarus und aus Russland. Gleichzeitig Verhandlungen für einen belastbaren Frieden. Schier unmöglich, so scheint es.  Zumalandere Stimmen fordern, es solle keine Kompromisse mit Russland geben, keinen Waffenstillstand (abgesehen von humanitären Korridoren für Flüchtlinge),, komplette territoriale Wiederherstellung der Ukraine, russische Reparationszahlungen, sowie die Vorladung der russischen Führung vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. ? Und auch wenn wir glauben, wir seien im Westen momentan geeint, so gibt es unterschiedliche Positionen, wie dieser Konflikt zwischen einem um seine Freiheit kämpfenden Volk und einer atomar hochgerüsteten Macht zu beenden ist.

Sie haben da ja sicher selbst eine Haltung. Können Sie diese formulieren oder sind Sie da parteipolitisch gebunden?

Reinhard Krumm: Ich teile die Position der deutschen Sozialdemokratie. Zumal war die Rede des Kanzlers vor dem deutschen Bundestag völlig klar. Wir brauchen auch in Deutschland eine Wehrkraft, um zu zeigen, dass wir es ernst meinen mit der eurpäischen Sicherheit. Dafür stand die Sozialdemokratie immer in schwierigen Zeiten: Die größte Mobilisierung der Streitkräfte in den 1970er Jahren fand unter Willy Brandt statt. Der Nato-Doppelbeschluss wurde in Kraft gesetzt unter Helmut Schmidt. Beides sozialdemokratische Kanzler. Insofern ist Wehrhaftigkeit für die Sozialdemokratie nichts Außergewöhnliches. Aber gleichzeitig hat die Friedrich-Ebert-Stiftung eben auch immer versucht, Gespräche zu führen. Ich muss ja wissen, wie der Andere tickt. Natürlich, wenn das Ereignis nach vielen  Gesprächen ein Krieg ist, dann ist der Verdacht groß, dass man den falschen Ansatz gewählt hat. Aber stets den Versuch zu unternehmen ist immer noch à la bonne heure. Wäre das nicht geschehen, hätte immer wieder die Frage gestellt werden können warum denn der politische Versuch der Deeskalation unterblieben worden sei. Umgekehrt die Frage, wie denn eine Abschreckung gegen eine Atommacht jenseits des Bündnisses anders hätte aussehen können?

Was können konkrete Ansätze für die weitere politische Zukunft aussehen?

Reinhard Krumm: Die entscheidende Frage ist, wie wir uns ein soziales und friedliches Europa in den nächsten Jahren vorstellen können und wollen? Wir müssen also jetzt schon Wege vordenken, die wir weiter gehen wollen. Auch für solche Fragen sind die baltischen Staaten ein harter, aber auch notwendiger Sparringpartner. Bei dieser auch gesellschaftspolitischen Zeitenwende muss die Bevölkerung mit einbezogen werden! Außenpolitik wird immer als etwas gesehen, worüber sich die Experten, wer auch immer das genau ist, unterhalten, und dieBevölkerung davon zu wenig versteht. Ich glaube nicht, dass das so richtig ist. Im Gegenteil – die deutsche Bevölkerung hat immer einen guten inneren Kompass gehabt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, was außenpolitisch möglich ist und was nicht. Wir sollten die Themen Sicherheit und Frieden wieder in die Diskussion bringen. In den vergangenen Jahren haben wir fast ausschließlich über das Klima diskutiert. Es gibt diesen weisen Satz von Willy Brandt, der, auch wenn er schon tausendmal zitiert wurde, immer noch richtig ist: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Das könnte auch auf das Klima übertragen werden. Also geht es nun darum, Frieden und Klima dieselbe Priorität zu geben. Zumal der erweiterte Sicherheitsbegriff das Klima miteinbezieht. So wie auch die Wirtschaft und die Menschenrechte. Vielleicht müssten wir einfach ein bisschen mehr arbeiten (lacht), ein bisschen anspruchsvoller sein, auch in der Politik.

Aber Putins Überfall kam ja nicht für alle gleichermaßen überraschend. Es gab ja zum Beispiel Journalisten, die jahrzehntelang als Korrespondenten in Russland gearbeitet haben und genau diese Entwicklung vorausgesehen und darüber geschrieben haben. Wird also vielleicht nicht nur zu wenig auf die Bevölkerung, sondern auch zu wenig auf Insider und Kenner der Situation gehört? Wurde der wirtschaftliche Gesichtspunkt vielleicht zu sehr über alles andere gestellt?

Reinhard Krumm: Die Bundesregierung lässt sich von guten Leuten beraten. Die Beziehung zu Russland hat sich seit 1989/90 gewaltig verändert. Deutschland hat schon lange kein besonderes Verhältnis mehr zu Russland. Die sogenannte rosarote Brille gegenüber Russland habe ich  gleichermaßen  bei einigen wenigen Politikern, Wirtschaftsleuten aber auch Experten und Journalisten wahrgenommen. Aber diejenigen, die wirklich an der Macht waren, haben Russland sehr wohl begriffen und damit gerungen, wie man nun damit umgeht. Was versäumt wurde ist die Brisanz der Bedeutung der Staaten der Östlichen Partnerschaft zu erkennen. Diesen Ländern wurde viel versprochen, vollmundig, ohne zu ahnen, welche Bedeutung sie für Russland haben. Diesem Verlangen Russlands ist nicht nachzugeben, aber für einen strategischen Ansatz muss er zumindest mitgedacht werden. Deren Stabilität, Sicherheit und Wohlstand ist so wichtig für die EU und deren Glaubwürdigkeit, wenn denn die Idee einer europäischen Souveränität ernsthaft verfolgt werden soll. Und damit meine ich das politische Verständnis der EU, sich mit Nachdruck in seiner Nachbarschaft politisch einzusetzen. Und was die Wirtschaft angeht: Deutschland hat die Sanktionen gegen Russland früh mit initiiert. Seit2014/15 nach der Krim-Annexion blieben die deutschen Sanktionen stabil, und die Einheit dabei innerhalb der EU ebenfalls. Zumal der Anteil Russlands am deutschen Außenhandel recht überschaubar war.

Noch einmal zu Ihrem vorherigen Gedanken, die Bevölkerung mehr in die Außenpolitik einzubeziehen. Wie könnte das konkret aussehen?

Reinhard Krumm: Im Bereich der Klimapolitik hat es gute gesellschaftliche Initiativen gegeben. Weil es sichtbare Herausforderungen waren. Es ist hingegen nicht einfach ein Thema mit der Gesellschaft zu verhandeln, das den Anschein hat, als ob es mit dem Einzelnen gar nichts zu tun hat. Aber diese Distanz ist jetzt vorbei! In Deutschland wird über Krieg geredet. Kinder fragen, was das eigentlich ist. Genau wie das Klima hat Sicherheit auf einmal einen direkten Bezug. Dieses Momentum sollte man nutzen. Das könnte über Stiftungen geschehen, wietere zivilgesellschaftliche Organisationen, Initiativen der Ministerien auf der Ebene der Länder und Kommunen. Wir haben in Deutschland eine wirklich gute Zivilgesellschaft, sowohl unter den Jüngeren wie auch unter den Älteren mit ihren Erfahrungen. Fragen sind zu stellen: Wie sollen die Welt in den nächsten Jahren aussehen? Was bedeutet das für das tägliche Leben? Es muss ja nicht immer in Katastrophenszenarien enden. Wir haben das in den Jahren seit der Wiedervereinigung nicht mehr ausreichend besprochen mit dem Gefühl, die Entwicklung läuft in geregelten Bahnen und damit in eine gute Richtung. Aber das tut es schon seit Jahren nicht mehr.

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