Reinhold Messner

„Das Umsetzen von Ideen ist Glück“

„Das Umsetzen von Ideen ist Glück“

Ein Gespräch mit der Bergsteiger-Legende Reinhold Messner über Sinn und Nützlichkeit.

Das Telefongespräch mit dem 77-Jährigen findet auf seiner Fahrt von einer Vortragsreihe zurück in sein Zuhause nach Südtirol statt. Er hat unzählige extreme Bergtouren und gefährliche Erlebnisse hinter sich und brennt nach wie vor für seine Ideen und Projekte. Unser Gespräch zeigt den nachdenklichen Waisen mehr noch als den puren Abenteurer, auch wenn für ihn beides zusammen gehört.

Was ist das Erste, was Sie in Ihrem Zuhause machen werden?
Reinhold Messner: Es gibt natürlich auch zu Hause Termine. Ich muss in mein Büro und schauen, was alles angefallen ist. Ich treffe Leute, mit denen ich Projekte habe. Ich bereite ein Filmprojekt vor, an dem ich noch etwas arbeiten muss.

Bleibt dabei Zeit, um hinaus zu gehen?
Reinhold Messner: Ja, hoffentlich bleibt das Wetter so schön, dann werden wir auch auf irgendeinen Hügel steigen, um uns zu erholen, das muss nicht ein schwieriger Berg sein. Vortragsreisen sind für die Gesundheit allgemein nicht zuträglich.

Dennoch muten Sie sich diese Strapazen zu?
Reinhold Messner: Diese Vorträge waren ja vor der Corona-Krise verabredet. Sie wurden dann verschoben und jetzt müssen sie abgearbeitet werden. Hoffentlich lassen sich alle Menschen impfen, dann haben wir die Corona-Krise bewältigt.

Kann und darf man eigentlich die Frage nach dem Sinn des Bergsteigens stellen?
Reinhold Messner: Sowieso. Das ist eine der Schlüsselfragen. Und ich glaube, da hat das Bergsteigen auch seine Faszination her. Da ist der Punkt, wo die Menschen den Kopf schütteln: Wir gehen freiwillig mit Begeisterung dorthin, wo wir umkommen könnten, um nicht umzukommen. Und das Nicht-Umkommen ist die Kunst des traditionellen Bergsteigens. Es ist nur eine Kunst, weil man umkommen könnte. Wenn Sie apriori das Umkommen ausschließen, mit allen möglichen Absicherungen und Hilfen, dann ist das etwas anderes. Nicht schlechter oder besser, aber was anderes. Und das Ganze was wir tun ist nutzlos. Angesichts des Todes, der ja eine Komponente dieses Tuns ist, ist es auch absurd. Aber gerade weil es nutzlos und absurd ist, wird klar, dass wir es uns sinnvoll machen. Sinnhaftigkeit und Nützlichkeit sind zwei völlig verschiedene Werte. Unsere Gesellschaft, acht Milliarden auf dieser Erde, hat diesen Widerspruch nicht verstanden. Es muss nicht alles nach Nützlichkeit bewertet werden. Ich kann mir etwas sinnvoll machen, das mit Nützlichkeit überhaupt keine Berührung hat. Das müssen wir in den nächsten Jahrtausenden schaffen für die Erdbevölkerung: allen klar zu machen, Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit sind verschiedene Werte. Ich habe gerade darüber ein neues Buch „Zwischen Durchkommen und Umkommen“ geschrieben – sozusagen das Erbe meines Bergsteigens, das ich weitergebe an die nächsten Generationen – wo ich diesen Unterschied zum Hauptthema mache. Wir dürfen nicht weiter den Sinn irgendwelchen Religionen überantworten oder irgendwelchen Ministerpräsidenten oder Parlamenten. Wir Menschen haben die Fähigkeit, Sinn zu stiften, und das ist eine göttliche Fähigkeit. Ich kann mir auch eine Besteigung des Nanga Parbat im Alleingang sinnvoll machen. Sinnvoller als alles andere auf der Welt. Das ist nur meine Angelegenheit, das geht niemand anderen etwas an.

Es gibt also keinen universalen Lebenssinn, sondern nur einen persönlichen?
Reinhold Messner: Bis zur Aufklärung haben die Religionen gesagt, ‚Wir wissen was der Sinn des Lebens ist‘. Der Sinn des Lebens laut Christentum sei, auf der Erde in einer bestimmten Form zu leben, auf dass man in den Himmel kommt. In welchen Himmel, frage ich. Ich lasse das Jenseitige offen. Aber ich lasse mich auf dieser Erde nicht mit dem Jenseitigen abspeisen. Wenn mich Geistliche bekehren möchten, haben sie immer noch nicht verstanden, welche Möglichkeiten wir auf der Erde haben. Wir haben die Möglichkeit uns auszudrücken, unserer Begeisterung und Neugierde nachzugehen, solange wir andere nicht dabei stören. Wenn ich mit drei anderen Alpinisten eine große Besteigung mache, dann tragen wir die Verantwortung für unser Leben gemeinsam. Wir wissen ja, dass das auch tödlich enden könnte. Mein aktuelles Buch, das ich während der Pandemie schrieb, habe ich mehr oder weniger mit der Hoffnung angefangen, dass ich damit eine Struktur in mein neues Leben bekomme. Ich konnte ja von dem, was ich früher gemacht habe, plötzlich nichts mehr machen. Das Reisen war nicht mehr möglich, keine Vorträge mehr, ich konnte daheim sitzen auf meinem Schloss, in die Morgensonne schauen und in die dortigen Berge gehen. Aber dann habe ich mir selber diese Aufgabe gestellt, und es wurde mein geistiges Erbe, das ich jetzt den nächsten Generationen weitergebe. Das Durchkommen ist das Ziel, aber das Umkommen ist eine Möglichkeit. Es heißt nicht zum Gipfel kommen, das ist nicht wichtig, auch nicht Sensationen zu liefern. Sondern zwischen Durchkommen und Umkommen bestehen und dabei Erfahrungen machen, vor allem über unsere Begrenztheit. Nur wenn wir an die Grenzen stoßen wird uns klar, welche Nicht-Bedeutung wir auf dieser Erde haben.

Die Vergänglichkeit des eigenen Lebens ist Ihnen also gegenwärtig?
Reinhold Messner: Richtig. Das ist ganz wichtig. Die eigene, subjektive Vergänglichkeit ist eine ganz große Erfahrung, eine große Erkenntnis. Und nicht nur theoretisch sondern auch praktisch. Die Vergänglichkeit des Ganzen ist etwas ganz anderes. Über die kann man nachdenken, aber ich bin kein Apokalyptiker. Natürlich ist die Erde und unser Sonnensystem auf die Explosion am Ende angelegt. Dann ist alles vorbei. Aber das sind Zeitspannen in denen wir nicht denken können.

Aber wenn man bewusst diese Möglichkeit umzukommen eingeht, mutet man seinen Angehörigen doch unglaublich viel zu?
Reinhold Messner: Das ist richtig. Aber umkommen tun wir alle. Ich lebe mit dieser Tatsache, erfahren – nicht gelernt – durch meine wilden, extremen Abenteuer, dass ich ein Sterbender bin. Und nur wenn ich mit jeder einzelnen Faser meines Wesens das weiß, kann ich intensiv leben. Wer nicht gelernt hat, dass das Sterben dazu gehört, kann nicht intensiv leben. Dann wird er immer mehr tot, immer weiter ins Nowhere geschoben. Wir sind beim traditionellen Bergsteigen mit dem Tod konfrontiert – es schlägt halt mal der Blitz ein und wir haben keinen Blitzableiter auf dem Gipfel des Mount Everest, es kommt eine Lawine. Das macht uns so bescheiden. Für mich sind die Berge die Gesetzgeber. Wenn ich in der Zivilisation bin, wie jetzt, habe ich einen Fahrer, der hält sich an die Straßenregeln und das ist auch richtig. Aber wenn ich in einer kleinen Gruppe auf einen Berg steige, ist nicht mehr das Parlament verantwortlich, und ich halte mich an deren entsprechende Gesetze, sondern dann wird der Berg, die Natur der Gesetzgeber. Die Natur ist zwar absichtslos, aber unendlich viel größer als der Mensch.

Kann man das lernen, dieses Wagen-wollen, hinaus in die gefahrvolle, wilde Natur?
Reinhold Messner: Sie haben einen ganz wichtigen Punkt aufgegriffen, das Wagen. Aber zuerst noch etwas zu den Angehörigen. Ihnen gegenüber ist das, was wir tun, nicht zu verantworten. Die haben es schwer damit. Wir, jeder einzelne, muss sich entscheiden, was zu tun ist. Ich beschreibe in meinen Büchern nur, wie wir unterwegs sind, ich bewerte nicht. Wir sind nach anarchischen Mustern unterwegs. Es geht nicht anders. Anarchos heißt, keine Macht für niemand. Es ist niemand da, der uns sagt, du musst so oder so. Wir haben selber dem Ganzen einen Sinn gegeben, wir tragen die Verantwortung, und wenn wir einen groben Fehler machen, dann ist Todesstrafe. Aber es gibt keinen Richter. Wenn ich auf den Nanga Parbat steige, bin ich mein eigener Schiedsrichter und niemand geht das etwas an, auch wenn ich Fehler mache. Ich habe mich dann in diesen anarchischen Raum begeben und arbeite nach anarchischen Mustern. Nicht Anarchos im Sinne der russischen Terroristen oder was auch immer.
Ich bin nicht der geschickteste Bergsteiger gewesen. Es gibt Leute, die mehr Genie hatten als ich. Aber ich habe sehr früh die Gabe entwickelt, es zu wagen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, ein äußerst vorsichtiger Mensch, so bin ich veranlagt. Ich habe als kleines Kind angefangen zu klettern und in die Berge zu gehen und hatte mit 20 sehr viel Erfahrung. Aber es gab Leute, die waren einfach besser als ich, vom Körperbau und der Ausdauer her, von ihrer Veranlagung her. Aber viele von denen haben dann nichts auf die Beine gestellt, weil sie nur gezögert haben. Es gilt die Sache auch zu wagen. Das heißt, ich muss das Risiko oder zumindest ein Restrisiko eingehen. Und wenn ich das nicht kann, dann kann ich mich in dieser Sparte nicht ausdrücken. Es gibt so viel Neid gegen mich, weil ich das Glück hatte zu überleben, weil ich sehr viel Kreativität in meine Sachen hineingelegt und immer wieder neue Zugänge erfunden habe. Ich habe mich sechs mal neu erfunden. Den anderen fehlte die Gabe es zu wagen. Wenn Sie ein großes Projekt haben, für das Sie jahrelang gearbeitet haben, um es zu finanzieren, um genügend physische Kraft zu haben, um die richtigen Partner, die richtige Ausrüstung zu haben, und wenn Sie dann zögern, wachsen die Ängste, die vor allem im Vorfeld kommen. Und am Ende sind die Ängste so groß, dass Sie nicht mehr los gehen. Wenn Sie beherzt losgehen, also es wagen, dann spüren Sie, dass Sie es können, dass es funktioniert, auch dass eine Krise überwindbar ist.

Warum haben die anderen gezögert und Sie nicht?
Reinhold Messner: Weil ich sehr viel mehr Erfahrung hatte. Durch dieses Kindsein in den Bergen. Von meinem Vater wurde ich als Fünfjähriger mitgenommen auf meinen ersten 3000er, bis ich zehn, zwölf Jahre alt war, bin ich mit meinem Vater geklettert. Und dann kam sehr schnell der Wunsch, den eigenen Vater zu überflügeln mit schwierigeren Touren. In dieser Zeit, so zwischen dem fünften und zwanzigsten Lebensjahr, ist mir der Instinkt zugewachsen, der mich hat überleben lassen, der mich hat kühnere und kühnere Projekte aufgreifen lassen und der mich beflügelt hat, es auch zu wagen und nicht nur davon zu reden. Das ist ja jetzt die Gefahr im traditionellen Alpinismus, dass das Internet es möglich macht, dass junge Leute irgendwas ankündigen und dann gar nicht mal dort hin fahren, was sie vorgeben, sondern irgendwelche Showbilder machen und das als großes Abenteuer verkaufen. Da ist die Gefahr, dass diese Ankündigungsabenteurer, die gar keine sind, den wirklich großen Abenteurern den Markt wegnehmen. Denn die Bergsteiger müssen ja auch Mittel haben, um das zu machen. Und heute wird irgendein Scharlatan hochgehalten. Ich sage jetzt keine Namen. Es gibt in Deutschland ein paar., die nur ankündigen, aber nichts machen. Die reden von Nahtoderfahrungen und wissen gar nicht was das ist.

Als damals Ihr Bruder am Berg den Tod fand, das hätte bei Ihnen auch ein Trauma auslösen können, die weitere Bergtouren vielleicht unmöglich gemacht hätten?
Reinhold Messner: Es hat ja auch ein Trauma ausgelöst. Wir beiden hatten sicher mehr als tausend Touren miteinander gemacht. Der Nanga Parbat war für uns beide die erste 8000er-Expedition. Wir waren früher ein bisschen überheblich geklettert. Uns passiert nichts, das war unsere Haltung. Wir waren so jung, die anderen kommen um, nur wir nicht. Und plötzlich war der Bruder tot und natürlich war das ein Schock für die Familie, für mich. Ich konnte auch nicht mehr so gut klettern. Ich war dann wieder in meinen bürgerlichen Beruf als Lehrer zurückgekehrt. Erst nach einem halben Jahr habe ich mich entschieden, beim Bergsteigen zu bleiben. Auch weil mein Bruder und ich während der Expedition schon in die Zukunft geträumt hatten. Wir waren ja 40 Tage zusammen in dieser Wand, in irgendwelchen Hochlagern, manchmal eingeschneit. Nachdem ich aber nicht mehr so gut klettern konnte wie vorher, ich war vorher vor allem ein Fels- und Eiskletterer, wegen meiner Amputationen – ich habe ja Zehen verloren, im Grunde bin ich ein Invalider – wurde ich ein Höhenbergsteiger. Das ist ein völlig anderes Tun. So habe ich viele hohe Berge bestiegen. Dann wurde ich ein Forscher, dann ein Politiker, dann wurde ich ein Museumsgründer, dann ein Filmemacher, und in Zukunft werde ich mich darum kümmern, dass das traditionelle Bergsteigen nicht ausstirbt.

Wie sieht Ihre aktuelle Lebensphase, Ihr jetziges Sich-Erfinden aus?
Reinhold Messner: Ich habe zusammen mit meiner Frau vor Corona begonnen, ein Projekt auf die Beine zu stellen, das wurde dann alles unterbrochen. Organisiert war ein dreitägiges Festival in Sydney im Opera House mit Filmen, die ich extra für diesen Zweck gemacht habe, und mit einer Diskussion mit führenden lokalen Bergsteigern sowie einem Grundsatzvortrag, der auf meinem neuen Buch aufbaut. Jetzt gibt es eine Anfrage aus Moskau, aber in Russland stehen die Coronazahlen so schlecht, dass man nicht planen kann. Jetzt müssen wir abwarten, bis die Coronakrise weltweit vorbei ist, und dann werden wir versuchen diese Idee umzusetzen. Wir nennen sie Final Expedition, eine Expediton rund um die Welt, erst in Asien, dann Südamerika, und zuletzt in Europa, weil das Reisen hier im Alter vielleicht noch möglich ist. Es muss ja auch kalkuliert werden, wie alt ich schon bin. Und da liegt meine Verantwortung, der Welt zu erklären, dass es einen großen Abgrund gibt zwischen der Nützlichkeit und der Sinnhaftigkeit. Und wir müssen aus der Nützlichkeit als Existenzbegründung heraus. Die Nützlichkeit braucht es auch weiterhin, aber für mich ist die Sinnhaftigkeit viel wichtiger.

Wie ist es denn für Sie, wenn Sie nun nicht mehr die hohen Berge besteigen wollen oder können?
Reinhold Messner: Ich habe den Satz verinnerlicht – er ist leider nicht von mir – „Das Können ist des Dürfens Maß“. Es ist ein Satz von einem Bergsteiger, den ich mehr bewundere als alle anderen, Paul Preuß, er ist 1913 abgestürzt. Ich habe über ihn auch eine Biographie geschrieben. Für mich ist er der hintergründigste Denker, was das Bergsteigen angeht, der sehr viel geschrieben und hinterlassen hat. Diesen Satz von ihm habe ich sehr früh beherzigt. Und nur wenn ich mit dieser Haltung in ein Abenteuer hinein gehe, kann ich das Wagnis auch eingehen. Wenn ich nicht weiß, dass ich das kann, wenn ich nicht gelernt habe, die Schwierigkeiten abzuschätzen, dann werde ich es schwer haben beim Losgehen. Dann kommt eben diese Phase des Zögerns und am Ende ist die Gabe, es zu wagen, auf Null geschrumpft und das Projekt obsolet.

Aber wenn im Alter sich dieses Maß des Könnens verschiebt, schmerzt das?
Reinhold Messner: Nein. Ich habe überhaupt kein Problem gehabt, als ich mich mit 25 oder 26 entschieden habe, das Klettern, das meine große Leidenschaft war, zurück zu stellen und etwas anderes in den Mittelpunkt meines Tuns zu stellen. Eben das Höhenbergsteigen. Das war überhaupt nicht schmerzhaft. Das war gut. Und aus dieser Entscheidung, angeregt durch meinen Zustand, meine amputierten Zehen – ich kann nicht mehr so gut klettern – hat mich gelehrt, dass ich immer dann, wenn ich merke, dieses Tun ist nicht mehr verbesserbar, ich kann keine genialere Zugehensweise finden, dann ist es besser umzusteigen und bei Null wieder anzufangen. Weil dann die Neugierde am größten ist. Natürlich habe ich in allen Sparten von meinen früheren Erfahrungen auch etwas mitgenommen ins neue Leben. In der Summe bin ich immer dann, wenn ich am Zenit des Tuns war und merkte, weiter geht es nicht mehr, ich kann mich nicht verbessern und keine kühneren Ideen umsetzen, umgestiegen. Und das werde ich auch in Zukunft tun. Allerdings wird mein Alter es nur noch einmal erlauben.

Da sind Sie also völlig unsentimental und klar?
Reinhold Messner: Völlig. Ich bin auch jemand, der erkannt hat, dass ein gelungenes Leben im Rückblick nicht wichtig ist. Gelingendes Leben ist im Hier und Jetzt, was zählt. Ein gelingendes Leben kann ja auch etwas ganz anderes sein. Das Weitertragen dieser Philosophie kann meine Aufgabe sein. Wenn ich merke, ein Vortrag ist mir gut gelungen, ich war ganz bei mir. Ich versuche mich hin zu beamen an den Ort, über den ich erzähle. Ich stehe zwar auf der Bühne, aber in Wirklichkeit bin ich irgendwo am Mount Everest oder in der Arktis, während ich diese Geschichten erzähle.

Wann ist Ihr Vortrag besonders gelungen? Was passiert da mit den Menschen, die zuhören?
Reinhold Messner: Wenn ich merke, dass diese komplexen Gedankengänge, die in bürgerlichen Köpfen im Grunde kaum vorkommen und die Menschen in ein zunächst skeptisches Schauen und Denken bringen, sie dann plötzlich begreifen. Begreifen wie mit dem Tastsinn, der stärker ist als die reine Intelligenz. Dafür braucht man Sprachbilder, die das tragen und das kommt nicht alle Tage gleich gut. Aber wenn ich merke, das hat der Saal verstanden, weil ich dieses durchatmen höre, dann bin ich zufrieden und werde beflügelt im weiteren Vortrag.

Glauben Sie, dass große, sinnstiftende Gedanken ohne Natur und ohne Bewegung entstehen können?
Reinhold Messner: Sehr schwierig. Aber wenn nach einem Vortrag die Zuhörer aufbrechen zu einer Sonntagswanderung im nahen Wald, dann habe ich dem nichts entgegen zu setzen, das ist schon wichtig. Sie müssen nicht extreme Abenteurer werden. Wenn andere in vielen kleinen Schritten lernen, auch in die Wildnis hinaus zu gehen, dann haben sie die Möglichkeit, das nachzufühlen, was ich auf der Bühne erzählt habe und werden auch bei diesem Tun bleiben, wenn auch nur in ihrer Freizeit. Nur möchte ich nicht anstacheln, dies in extremer Form zu tun, weil das nicht zu verantworten wäre. Als ich kürzlich bei einem Treffen der Abiturienten aus meiner Klasse war, haben alle angefangen zu schwärmen, was sie jetzt tun, wie sie reisen, wie großartig es ihnen geht und wie glücklich sie sind. Alles tüchtige Ingenieure und Architekten. Ich hatte mein Studium unterbrochen und war Abenteurer geworden, als Einziger natürlich. Wir werden ja scheinbar alle 80 und mehr. Meine Großeltern wurden 70, mein Vater wurde 68, wir werden viel älter und haben dadurch die Möglichkeit, nach der Pensionierung das nachzuholen, was wir versäumt haben. Und ich habe am Ende zu ihnen gesagt: Das, was ihr alle miteinander jetzt mit großer Begeisterung tut, das tue ich schon mein ganzes Leben lang.

Kann man das denn nachholen?
Reinhold Messner: Natürlich kann man nicht extreme Abenteuer nachholen.

Hätten Sie auch anders ein glücklicher Mensch werden können, ohne das Abenteuer zu wagen? Was ist für Sie Glück?
Reinhold Messner: Sie kennen die Geschichte von Sisyphus. Camus sagt in der letzten Zeile, die auch in der Film-Biografie über mich vorkommt: Man muss sich Sisyphus – das kann man auch ersetzen durch Messner – als glücklichen Menschen vorstellen. Obwohl ich etwas getan habe, was völlig irreal und nicht zu verteidigen ist, absurd erscheint, auch angesichts des Todes, der ja immer wieder bei Grenztouren auftaucht. Aber ich habe es mir sinnvoll gemacht. Und das Umsetzen von sinnvollen Ideen, von sinnvollem Tun, ist Glück. Allerdings passiert uns das Glück. Wir sind während des Umsetzens so fokussiert auf das Tun, dass wir uns gar nicht bewusst sind, das es Glück ist. Gelingendes Leben im Hier und Jetzt ist immer mit Glück verbunden. Das Glück nach diesen ganzen Glücks-Ratgebern zu finden, das funktioniert nicht. Das Glück passiert uns Menschen, wenn wir in unser Tun, in eine bestimmte Person, in eine bestimmte Sache die ganze Vehemenz unserer Begeisterung hinein legen. Oder der Neugierde folgen. Getragen von dieser Sinnstiftung, die ich als die Basis des Lebens ansehe. Und der Sinn kommt nicht von außen, sondern ich gebe Sinn. Das Sinnstiften ist eine divine Fähigkeit, wie auch die Kreativität.

Reinhold Messner ist mit seinen Vorträgen „Nanga Parbat – Schicksalsberg“ auch bei der Mundologia am 15. und am 16. November, um 19:30 Uhr im Konzerthaus Freiburg; www.mundologia.de

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