Sandra Navidi (Foto: MG RTL DSpreitzenbarth)

Wettbewerbsvorteil Menschsein

Wettbewerbsvorteil Menschsein

Sandra Navidi ist eine Ausnahmeerscheinung. Geboren in Mönchengladbach, studierte sie Jura, ist in Deutschland und den USA zugelassene Rechtsanwältin, landete an der Wall Street und wurde schließlich CEO einer international tätigen Unternehmensberatungsfirma in New York, wo sie auch seit über 20 Jahren lebt. Sie gilt als eine der bestvernetzten Personen in der globalen Finanzwelt und spricht auf n-tv über die US-Wirtschaft. Nach ihrem Buch „$uper Hubs“ über die Finanzelite, hat sie nun ihr neues Buch „Das Future Proof Mindset“ (FBV, 19,99 Euro) vorgelegt, über Erfolg im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Die Verabredung zum Telefoninterview hält sie pünktlich auf die Minute ein, trotz der sechs Stunden Zeitverschiebung.

Wir verbringen rund ein Drittel unseres Lebens mit Arbeit. Was bedeutet dies im Hinblick auf die technologischen Entwicklungen für unsere Berufswahl?

Sandra Navidi: Besonders gravierend sind die Veränderungen im Rahmen der Digitalisierung. Das betrifft nicht nur Fließbandjobs und solche, die einfach zu verrichten sind, sondern auch hochqualifizierte Jobs, bei denen kognitive Fähigkeiten gefragt sind. Man sollte sich also damit auseinandersetzen, welche Fähigkeiten und welche Berufe überhaupt noch gefragt sein werden in der Zukunft, und wie die Berufe, die voraussichtlich noch die nächsten Jahrzehnte bestehen bleiben, sich verändern werden. In die persönliche Betrachtung sollten die Präferenzen, die eigenen Stärken und das Umfeld, in dem man gerne arbeiten möchte, mit einfließen. Und vor allen Dingen die Frage, wie kann ich mir eine Nische erarbeiten, in der ich zumindest auf absehbare Zeit schwer ersetzbar bin, um für eine gewisse Jobsicherheit zu sorgen.

Ist bei der Suche nach dieser Nische die technologische Entwicklung hilfreich oder eher gefährlich?

Sandra Navidi: Es gibt Leute, die blühen auf, wenn sie Ungewissheit verspüren, wenn sie Risiken eingehen und sie mit Herausforderungen konfrontiert sind. Für solche Menschen sind diese Veränderungen eher günstig, eben weil sie auch viele Möglichkeiten bieten, die für andere bedrohlich wirken, denen Veränderungen weniger liegen. Auch durch Corona wurden die Menschen von einem Moment auf den nächsten in die Ungewissheit geworfen. Corona war gewissermaßen ein Zeitraffer einer Entwicklung, die sich sowieso schon in der Pipeline befand und dadurch verstärkt und beschleunigt wurde. Viele hatten da gar keine andere Möglichkeit, als zu kämpfen und sind aus der Not in andere Bereiche hinein gerutscht. Und viele haben dabei ihre persönlichen Stärken und Schwächen sortiert, was im bisherigen Berufsleben nicht so notwendig war, weil die berufliche Entwicklung linear verlaufen ist. Hat man einmal in einem Beruf angefangen, war die weitere Entwicklung mehr oder weniger absehbar. In unserer heutigen Zeit der preisgünstigen Massenproduktion kann sich eigentlich jeder alles leisten was er braucht an Möbeln, Haushaltsgeräten und so weiter. Was aber wichtig und immer wertvoller wird im Rahmen dieser Entwicklung, sind unsere persönlich verbrachte Zeit sowie persönlich, mit Liebe gefertigte Waren, einmalige Produkte. In diese Bereiche sind viele Leute im Rahmen von Corona rein gerutscht, über Plattformen wie Etsy, wo man Waren persönlich anbieten und vertreiben kann, und das sogar weltweit.

Eine Entwicklung, die also sowieso gekommen wäre und sich durch die Pandemie nur beschleunigt hat?

Sandra Navidi: Ganz genau. Da ist die Digitalisierung, die Künstliche Intelligenz, die Vorherrschaft der großen Tech-Konzerne, die heute von der Macht her eigentlich die Rolle von Finanzkonzernen gewissermaßen übernommen haben und immer mehr auch finanzielle Dienstleistungen anbieten, wie Amazon, Facebook, das eine Kryptowährung herausbringen will und PayPal, das diese bereits akzeptiert. Diese Übermacht wird getrieben durch Netzwerkeffekte, und die Mächtigen nutzen die Möglichkeit, sich überproportional schnell zu vergrößern. Aber diese Entwicklungen laufen im Alltag etwas unter dem Radar, man bekommt das nur schrittchenweise mit, bis auf einmal die große Veränderung dann scheinbar über Nacht eingetreten ist. Wie zum Beispiel die Gig-Arbeit, also dass immer mehr Leute outgesourct und damit unabhängige Vertragsarbeiter werden, ohne Sozialleistungen, zumindest in den USA. Das Ausmaß bekommt man oft gar nicht mit. FedEx, UPS, Bank of America, Google und andere outsourcen unternehmerisches Risiko und Kosten an Externe, zum Teil schon bis zu 50 Prozent der Mitarbeiterschaft. Mit dem erklärten Ziel, dies immer weiter voranzutreiben, bis im Endeffekt nur noch das Management als fester Kern übrig bleibt.

Sind Sie selbst denn von einem geradlinigen Berufsweg abgewichen oder hat Sie Ihr Weg gezielt nach New York geführt?

Sandra Navidi: Ich fand früher die Frage, `Was ist Ihr Plan, wo sehen Sie sich in fünf Jahren?`, eher schwierig zu beantworten, denn ich hatte schon als Schülerin das Bedürfnis im Ausland zu studieren, mein Wissen zu erweitern, und ich war wahnsinnig stolz, in New York einen Master of Law-Studienplatz ergattert zu haben. Vor der Prüfung zum Zweiten juristischen Staatsexamen in Deutschland, fragte mich der prüfende Richter in einem einschüchternden Umfeld, was denn mein weiterer Plan wäre, und ich berichtete ihm ganz stolz von der Zulassung in den USA. Woraufhin er mich nur ganz kalt und herablassend niederbügelte mit einem `Damit können Sie überhaupt nichts anfangen, das können Sie sich sparen`. Im Endeffekt hat sich das Auslandsstudium aber im Rahmen der Globalisierung als äußerst nützlich erwiesen. Am wichtigsten war vielleicht die prägende Erfahrung, dass man sich immer weiter fortbilden muss, nicht mal unbedingt zielgerichtet. Ich habe Prüfungen, Studien- und Lehrgänge abgelegt, zum Teil ohne dass ich zum Zeitpunkt, als ich das auf mich genommen habe, einen konkreten Verwendungszweck dafür hatte. Einfach im Bewusstsein, du musst da drin bleiben, dich weiter bilden, musst ein Gefühl dafür bekommen, wohin sich die Welt entwickelt. Außerdem kommt man dabei in Kontakt mit anderen Menschen und es entwickelt sich ein wichtiger, disziplinübergreifender Austausch – damit man nicht nur in seiner eigenen Blase bleibt, ich beispielsweise in meiner Jura-Blase. Ich arbeitete ja in einer Unternehmensberatung, wo man sonst nur unter seinesgleichen ist sowie Kontakt zu Investmentbankern hat. Es ist wichtig, sich manchmal zu zwingen und aufzuraffen, um etwas anzugehen, was nicht im direkten Zusammenhang mit der eigenen Tätigkeit steht. Allein um geistig flexibel zu bleiben, auch im jungen Alter, und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Welt tickt und wohin es geht.

War das auch der Grund, warum Sie sich anfangs nach einem langen Arbeitstag nochmal aufgerafft haben und Einladungen gefolgt und unter Menschen gegangen sind?

Sandra Navidi: Zum Teil war dies rational angelegt, zum Teil aber war es auch emotional, weil ich einfach niemanden in New York kannte. Und wenn ich abends in meine Wohnung gekommen bin, dann war ich allein. Ich kenne aus dieser Zeit das Gefühl der Einsamkeit, wenn man völlig abgeschnitten ist und sich nicht als Teil einer Community fühlt. Obwohl es hier in New York schwerer ist sich einsam zu fühlen, weil es so viele Leute gibt und man ständig zumindest indirekt mit anderen in Kontakt ist. Ich war gezwungen mir hier ein neues Leben aufzubauen. Aber diese Erfahrung ist auch nicht anders, als wenn jemand in Deutschland in eine neue Stadt geht, beispielsweise nach dem Abitur, und dort ein Studium beginnt. Oder wenn jemand seinen Job wechselt und in einen neuen Ort umziehen muss, wo er niemanden kennt. Oder auch nur in eine neue Firma wechselt und sich dort erst einmal sehr verloren fühlt, weil man niemanden kennt. Die Erfahrungen, die ich geschildert habe, sind also allgemeingültig. Und die Rezepte, die ich anrege, sind auch vielfach anwendbar.

Solche Kontakte sind ja auch die Basis für die Netzwerke, die Sie ja für so entscheidend wichtig halten. Ist es in den USA aufgrund einer anderen Kultur der Begegnung vielleicht einfacher als in Deutschland, solche Kontakte aufzubauen?

Sandra Navidi: Auf jeden Fall ist es in den USA viel einfacher zu netzwerken, wobei es in Deutschland über die vergangenen zwei Jahrzehnte besser und lockerer geworden ist. Trotzdem besteht in Deutschland bis heute eine gewisse Skepsis dem Netzwerken gegenüber, es wird als unfair empfunden, als manipulativ, und weil es zum Teil mit Eigenwerbung verbunden ist, schaut man ein bisschen darauf herab. In Amerika dagegen wird es als ganz legitim angesehen, was jede und jeder im Business braucht, egal welcher Art Geschäftsmann oder Geschäftsfrau, ob Arzt oder Rechtsanwältin. Es muss jeder machen, von daher wäre es heuchlerisch so zu tun, als ob man es nicht bräuchte. Ich finde die Einstellung gegenüber Netzwerken hier in den USA deshalb gesünder und ehrlicher. In unserer vernetzten Gesellschaft sind nun mal Kontakte und menschliche Netzwerke das Nervenzentrum der wirtschaftlichen Tätigkeit, ohne das geht nichts. Es kommt im Grunde niemand darum herum. Zu sagen, ich tue mir das nicht an, ist ein Luxus, den sich nur wenige leisten können. Außerdem ist es in vielerlei Hinsicht bereichernd. Gut vernetzt und Teil einer Community zu sein, ist nachweislich gesund, psychisch wie physisch, und wirkt sich positiv auf die persönliche und berufliche Zufriedenheit aus.

Manchen fällt es aber schwer, mit anderen in Kontakt zu treten oder für sich zu werben.

Sandra Navidi: Die Tätigkeit des Netzwerkens, das kann ich unterschreiben, erfordert Überwindung, weil man Fremden gegenübertreten muss, und evolutionsbedingt verbinden wir das automatisch mit Gefahr. Es ist immer etwas unangenehm, daher auch der Ausdruck, man muss aus seiner Komfortzone heraus. Auch heute noch, wenn ich in New York in einen Raum komme und ich kenne dort niemanden, dann kostet mich das auch Überwindung, da hinein zu gehen, zu lächeln und auf Leute zuzugehen. Aber im Endeffekt ist es bereichernd. Wenn man eine holistische Netzwerk-Einstellung und ein positives Menschenbild hat, kann man von fast allen Menschen etwas lernen. Und viele sind doch oft viel netter, als man das auf den ersten, vorurteilsbehafteten Blick vermuten würde.

Wollen Sie mit Ihrem Buch die Menschen geradezu ermuntern, sich selbstständig zu machen?

Sandra Navidi: Ich möchte nicht alle zur Selbstständigkeit ermuntern, aber alle sollten versuchen, sich ein unternehmerisches Mindset anzueignen, also zu denken wie ein Unternehmer. Auch wenn man angestellt ist. Gerade auch, weil es vielleicht für viele einmal so kommt, dass sie gar keine andere Wahl mehr haben, als sich selbstständig zu machen, beispielsweise wenn ihre Anstellung durch Outsourcing wegfällt. Wenn beispielsweise ein Kabelunternehmen sagt, du kannst für uns arbeiten, aber auf unabhängiger Basis. Dann hat man zwar immer noch ein gewisses Interface, also einen Kontakt zu dem Unternehmen, aber trotzdem muss man dann eben selbstständiger denken.

Wie wichtig ist im Beruf das äußere Erscheinungsbild?

Sandra Navidi: Das Auftreten ist sehr wichtig. Es ist aber auch wichtig, sich selbst zu kennen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie andere einen wahrnehmen. Denn die Eigenwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung klaffen oft auseinander. Nicht das Aussehen ist wirklich wichtig, es kommt nicht auf Attraktivität an, sondern darauf, dass das was man tut, was man denkt, die eigenen Werte verkörpert. Und das kann man dann schon ruhig nach außen tragen. Wer eher progressiv eingestellt ist und in einem kreativen Umfeld arbeitet, muss nicht rumlaufen wie ein Banker. Wenn man aber Banker ist, ist es wahrscheinlich ratsamer sich immer noch etwas konservativer zu kleiden. Im Start-Up- oder Tech-Bereich ist der Stil demgegenüber wieder lockerer. Das Auftreten muss authentisch sein und sollte mit der Marke, die man vertritt und für was man steht auf einer Linie sein. Und es geht ja nicht nur um Optik, sondern vor allem, wie man anderen gegenüber tritt. Auch wenn man einen schlechten Tag hat, sollte man sich zwingen freundlich, gütig und nachsichtig zu sein. Also sein bestes Ich hervorkrempeln und präsentieren.

Aber geht es nicht beim beruflichen Erfolg auch darum aufzufallen?

Die Digitalwirtschaft ist eine Aufmerksamkeitswirtschaft. Es wird auch bei großen Konzernen um Aufmerksamkeit, um Klicks gebuhlt. Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne soll bei rund acht Sekunden liegen. Das trifft auf jede Branche zu. Aufmerksamkeit für sich und für die Leistungen oder Produkte zu bekommen, die man vertreibt, ist wichtig. Wenn alle Männer graue Anzüge und eine Brille sowie eine blaue Krawatte tragen, dann sticht der einzelne weniger hervor. Wenn ich auf Events gewesen bin, dann erinnern sich die Leute häufig an mich, vermutlich auch, weil ich als eine der wenigen anwesenden Frauen aufgefallen bin. Was auffällt, das prägt sich ein. Aber es muss dabei nicht laut oder schrill sein. Man sollte sich vor allem treu zu bleiben, nicht jedem Trend folgen, und authentisch seinen eigenen Stil kultivieren. Wenn alle sich operieren lassen, um auszusehen wie Kim Kardashian, dann wird wieder der Typ mehr geschätzt, der ganz natürlich ist. Darum ist es wichtig authentisch zu sein, ohne in der Masse unterzugehen. Denn es ist nicht nur wichtig, wen ich kenne, sondern auch wer mich kennt und sich an mich erinnert. Wenn man auf dem Jobmarkt ist, als Berufsanfänger oder weil man sich in der Mitte der Karriere umorientieren will, und der Recruiter an dem Tag 80 Leute getroffen hat, hilft es natürlich, wenn ein Bewerber bekommt, an den er sich erinnert. Die Frau mit den roten Haaren oder der Mann, der die Fliege getragen hat.

In der Pandemie gibt es die Möglichkeit durch Zoom-Konferenzen oder Skype im Homeoffice zu arbeiten. Glauben Sie das wird so bleiben oder fehlt den Menschen doch der persönliche Kontakt zu sehr?

Sandra Navidi: Der größte Wettbewerbsvorteil, den wir haben, ist unser Menschsein. Und das lässt sich nur begrenzt digital übertragen. Das sehen Sie auch hier in New York, das mit am schlimmsten von der Pandemie betroffen war und sich relativ rasch erholt hat. Die Unternehmen hier rufen jetzt in die Büros zurück und spätestens im September sollen alle zurückkehren, corona-angepasst, mit versetzten Arbeitszeiten und social distancing. Das liegt ganz klar daran, dass persönliche Präsenz ein Wettbewerbsvorteil ist, allein auch schon innerhalb einer Firma unter den Angestellten. In persönlicher Interaktion kann man bei Vorgesetzten besser Pluspunkte sammeln. Allein wo man seinen Schreibtisch im Büro platziert hat, macht einen riesigen Unterschied im Hinblick auf den Einfluss, den man im Unternehmen hat und auf die Karrierechancen. Wer sich als erster persönlich mit Kunden trifft und den Auftrag einfährt, der wird eine Sogwirkung unter anderen auslösen. Mal abgesehen davon, dass viele zuhause nicht gut arbeiten können, aufgrund beengter Verhältnisse oder Kindern. Viele brauchen auch das Gefühl, Teil eines Teams zu sein, brauchen die Abwechslung. Etliche, die ich kenne, die eine lange Pendelzeit zum Büro haben – typischerweise mit Familie, großem Haus und Pool im Vorort, was man sich in der Stadt nicht leisten könnte – lieben diese Anfahrtswege, weil, wie sie sagen, es die einzige Zeit am Tag ist, die sie für sich haben. Auch das ist ein Grund, warum die Leute zurück in die Stadt und Büros wollen. Zum Teil wird natürlich der virtuelle Austausch bleiben, das macht ja auch Sinn. Aber der Drang nach dem zwischenmenschlichen Kontakt, der wird ganz klar bestehen bleiben.

Gerne möchte ich noch einmal auf das Thema Netzwerken zurückkommen, das ja so wichtig für den beruflichen Erfolg ist. Was sind Netzwerke, wie funktionieren sie und wie baut man sie auf?

Sandra Navidi: Diesem Thema habe ich mich schon in meinem ersten Buch „$uper-hubs“ gewidmet. Alles in unserer Welt besteht aus Netzwerken – komplexen, sich selbst organisierenden Systemen. Netzwerke sind die allem zugrundeliegende Architektur. Wenn wir unser soziales Netzwerk betrachten, sind wir alle Knotenpunkte darin. Ein natürliches Netzwerk ist zum Beispiel unser Biotop, die Ökologie. Auch unser Gehirn ist ein Netzwerk oder ein Ameisenhaufen. Menschengemachte Netzwerke sind beispielsweise das Elektrizitätsnetz oder das Internet. Netzwerke sind immer selbst-organisierend, es gibt keine zentrale Master-Zelle. Je zentraler ein Knotenpunkt ist, desto mehr Verbindungen hat er, und die, die am meisten verbunden sind, haben den größten Einfluss auf das System. Die einflussreichsten Menschen in der Finanzindustrie, wie beispielsweise Bankchefs, Investmentfonds-Chefs, Zentralbankchefs und Finanzminister, einflussreiche Ökonomie-Professoren. In sozialen und beruflichen Netzwerken sind wir alle Knotenpunkte, ob Handwerker in einer Kleinstadt oder Chef einer Großbank. Und auch dabei gilt: Je mehr man vernetzt ist, desto mehr Einflussmöglichkeiten hat man. Die Deutschen legen immer sehr viel Wert auf Ernsthaftigkeit und Tiefgründigkeit, bloß auf keinen Fall oberflächlich sein. Dabei können doch nicht alle menschlichen Verbindungen tiefgründig sein. Das müssen sie auch nicht. Gerade die oberflächlichen Verbindungen sind genauso wichtig. Denn die tiefen Verbindungen haben wir mit Menschen, die wie wir sind, die im gleichen Saft schmoren, im gleichen Umfeld leben und die gleichen Leute kennen. Während die oberflächlichen Kontakte, was ein Nachbar sein kann, den man immer nur von weitem sieht, oder ein ehemaliger Professor oder jemand, den man seit Jahren im Fitnessstudio sieht, aber immer nur ein paar Worte gewechselt hat, die leben in einem anderen Umfeld und kennen andere Leute, haben andere Informationen als wir. Man hat herausgefunden, dass ein Großteil der Jobs, die vergeben werden, nicht aufgrund tiefer Kontakte, also über Leute, die man gut kennt, zustande kommt, sondern über Leute, die man oberflächlich kennt. Denn das sind die Menschen, die Informationen über Jobs haben, die man eben nicht selber hat. Sonst hätte man den Job ja auch gleich selber gefunden.

Geht es also letztlich um den vielfältigen Kontakt mit verschiedenen Menschen?

Sandra Navidi: Genau. Das Netzwerken ist der Beziehungsaufbau, zwecks Austausch und gegenseitiger beruflicher Unterstützung. Es bedeutet also letztendlich nichts anderes als Beziehungen zu knüpfen. Je mehr Beziehungen wir knüpfen, desto besser vernetzt werden wir. Es ist wichtig, eine holistische Netzwerk-Mentalität zu haben und Beziehungen zu verschiedensten Menschen zu knüpfen. Damit man nicht nur in seiner Echo-Kammer gefangen bleibt. Auch wenn die Globalisierung etwas abnimmt, die technische Vernetzung nimmt global doch immer weiter zu. Deswegen werden die tatsächlichen Veränderungen immer schneller und weitreichender. Unsere menschlichen Beziehungen sollten das irgendwo widerspiegeln. Es hat sich zudem gezeigt, dass unsere Vernetzungen auch unser Gehirnnetz beeinflussen, also ein Spiegel der Vernetzung in unserem Leben ist. Je mehr verschiedene Menschen wir kennenlernen, je mehr Gedankenaustausch wir haben, je mehr Erfahrungen wir dadurch machen, desto vernetzter werden unsere Synapsen.

Sie haben den Frauen in Ihrem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet und dabei auch beschrieben, wie Sie in vielen Meetings und bei Verhandlungen nach wie vor meist die einzige Frau sind. Wo kommen diese Vorurteile und Ungerechtigkeiten her? Was kann man dagegen unternehmen?

Sandra Navidi: Der wichtigste Grund dafür sind die gesellschaftlichen Vorurteile, die aus unserer evolutionären Geschichte und aus einer Zeit stammen, als Leistung noch auf körperlicher Leistungskraft basierte. Diese Zeit liegt ja noch gar nicht so wahnsinnig lange zurück. Frauen sind ja eigentlich erst seit ein paar Jahrzehnten ins Berufsleben vorgedrungen. Von daher sind die noch bestehenden Vorurteile tief verwurzelt, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Es gibt ein Experiment, wo Männer und Frauen aufgefordert werden, eine Führungspersönlichkeit zu zeichnen, und fast ausnahmslos alle zeichnen einen Mann. Allerdings kann sich der Zeitgeist auch schnell und unerwartet ändern, wie wir an der #MeToo-Bewegung gesehen haben. Vor ein paar Jahrzehnten waren bestimmte Sprüche, mit denen Frauen konfrontiert wurden oder ein bestimmtes Verhalten von Männern noch akzeptiert. Was früher als normal galt, hat sich im Rahmen von #MeToo völlig verändert. Umbrüche, die viel mediale Aufmerksamkeit und Empörung in der Öffentlichkeit erzeugen, können Beschleuniger sein, damit sich Vorurteile verändern. Aber das Gendern beispielsweise, das ja vor allem in Deutschland sehr umstritten ist, das von oben vorgegeben wird, stößt auf mehr Widerstand. Kurzum, Vorurteile sind sehr schwer loszuwerden, können sich aber manchmal auch schneller ändern, als man erwartet.

Nun könnte man ja meinen, dass diese Haltung im Rahmen von Künstlicher Intelligenz ausgewogener wird. Sie zeigen jedoch, dass bereits durch die vorangegangene Programmierung, die in der Regel von Männern entwickelt wurde, die Vorurteile quasi implantiert sind.

Sandra Navidi: Ganz genau. Die Künstliche Intelligenz ist ein Verstärker dieser diskriminierenden Entwicklung, weil diejenigen, die die Algorithmen programmieren, ihre eigenen Vorurteile dort mit hineinnehmen und weil der Lernmechanismus, den die Künstliche Intelligenz anwendet, eben nicht so umsichtig wie ein Mensch „denkt“ . Ein Beispiel ist hier eine Jobausschreibung von Google, wo das Unternehmen erst nach eineinhalb Jahren mitbekommen hat, dass auf Stellenausschreibungen fast nur männliche Bewerbungen kamen. Das ist übrigens ein grundsätzliches Problem bei immer mehr automatisierten Stellenausschreibungen, also wo man seinen Lebenslauf digital einschickt. Wenn Google das Internet abgreift nach Erfahrungswerten und in den fraglichen Positionen dann bisher überwiegend Männer waren, und die wenigen Frauen wurden nicht befördert oder sind nach wenigen Jahren ausgeschieden, dann geht der künstliche Algorithmus davon aus, dass Frauen für diese Position nicht geeignet sind. Weil er darauf programmiert wurde, einen Sinn herzustellen zwischen nicht zusammenhängenden Datenpunkten. Während ein Mensch solche Datenpunkte in einem größeren Kontext setzen und ihnen auf den Grund gehen kann. Auch das ist ein Beispiel dafür, wo unser Menschsein im Vorteil ist, gesunder Menschenverstand und Beurteilungsvermögen, kreatives und ausgewogenes Denken sowie soziale Fähigkeiten. Das braucht es auch weiterhin. Wenn wir uns nur auf Maschinen verlassen, führt das in Kombination mit der Übermacht der Tech-Konzerne dazu, dass Ungleichheit, vor allem Vermögensungleichheit, überhand nimmt und immer mehr Menschen außen vor bleiben und sich eine ganz kleine Elite herausbildet, die die absolute Übermacht hat.    

Frauen, so schreiben Sie, würden dazu neigen, fleißig im Hintergrund zu arbeiten, weniger auf sich aufmerksam und sich wenig sichtbar zu machen und weniger zu netzwerken. Haben es Frauen also irgendwie selbst zu verantworten, wenn sie nicht mehr wahrgenommen werden und in leitende Positionen kommen?

Sandra Navidi: Das liegt auch daran, wie wir erzogen wurden, dazu zähle ich mich auch: bescheiden zu sein, sich nicht in den Vordergrund zu stellen. Das ist der gesellschaftliche Kontext. Ich vermute, dass jüngere Generationen, die mit den sozialen Medien aufwachsen, wo Männer wie Frauen gewohnt sind, sich zu präsentieren – wobei auch da der Fokus auf der professionellen Präsentation und nicht auf Weiblichkeit liegen sollte, aber das nur nebenbei –  wird das etwas anders. Davon abgesehen gibt es viele Studien, die zeigen, dass wenn Frauen versuchen, sich wie Männer zu verhalten, es kontraproduktiv ist. Eigenschaften, wie zum Beispiel Ehrgeiz, Durchsetzungsvermögen, Redevermögen, werden bei Männern durch die Bank positiv gesehen, von Männern wie von Frauen. Während, wenn Frauen diese Verhaltensweisen praktizieren, sie oft gegen sie ausgelegt werden. Es gilt als unsympathisch, als „Mannweib“, in Amerika sagt man, sie ist „bossy“ oder „bitchy“…

… hierzulande vielleicht „zickig“…

Sandra Navidi: Genau. Es ist deshalb schwer, eine allgemeingültige Patentlösung zu geben. Denn es ist für Frauen viel schwieriger, sich im beruflichen Umfeld zu behaupten. Das ist auch der Grund, warum viele Frauen in der Mitte ihrer Karriere, wenn sie schon unheimlich viel geleistet haben, ihren Job, ihre Position verlassen, weil sie sich das nicht länger antun wollen. Sie können das zwar, aber das kostet einfach viel mehr Kraft für eine Frau als für einen Mann. Was aber vor allem auch daran liegt, – und damit sind wir wieder beim Thema – dass Frauen nicht eingebunden sind in diese Netzwerke, diese überwiegend männlichen Seilschaften.

Sind Sie rückblickend froh, dass Sie Ihren beruflichen Weg so gegangen sind? Was würden Sie vielleicht anders machen?

Sandra Navidi: Ich bin absolut zufrieden. Ich glaube das allerwichtigste ist für jeden Menschen sein Potenzial zu verwirklichen, egal ob das ist Eltern zu sein oder was man beruflich macht. Es ist sehr frustrierend, wenn man das, was in einem steckt, nicht verwirklichen kann. Ich wollte in die Welt hinaus und in einem multikulturellen Umfeld leben, mit interessanten Menschen arbeiten und in dem Bereich tätig sein, der mich interessiert. Ich persönlich wäre wahrscheinlich nicht glücklich gewesen, 20 Jahre lang in der gleichen Kanzlei zu sitzen und das gleiche Rechtsgebiet zu bearbeiten. Für andere Leute ist das aber super, dort sind sie Experten und fühlen sich wohl. Wenn ich gewusst hätte, dass 9/11 passieren würde, dass es eine Finanzkrise geben würde… wobei ich immer das Beste aus den Situationen gemacht habe. Vielleicht hätte ich dann etwas anders gemacht. Aber ich denke eigentlich überhaupt nicht so, das ist nicht meine Art. Und weil ich zufrieden bin mit dem, was ich mache, würde ich auch nichts anders machen.

Was würden Sie der Tochter Ihrer besten Freundin raten, die gerade ihren Schulabschluss absolviert und vor dem nächsten Schritt steht, wie sie ihren weiteren Weg angehen sollte?

Sandra Navidi: Nach wie vor würde ich sagen, so wie es auch meine Eltern mir gesagt haben, dass es wahnsinnig wichtig für eine Frau ist, finanziell unabhängig zu sein. Das bedeutet im Hinblick auf den Beruf, egal welcher, dass man sich eine Nische ausarbeitet. Ob es eine Lehre ist oder ein Studium. Das heißt nicht, dass man deswegen ewig mit der Familiengründung warten oder umgekehrt der Familie die Priorität einräumen muss. Wie Sheryl Sandberg, eine Chefin bei Facebook, einmal gesagt hat, ist eine der wichtigsten finanziellen Entscheidungen einer Frau ihre Partnerwahl. Und damit meinte sie nicht, sich einen reichen Mann zu angeln, sondern, dass man einen Partner hat, mit dem man sich einig ist, mit dem man die gleichen Lebensziele hat, mit dem man, wenn man selbst Karriere machen möchte, einen Konsens findet, wie das praktiziert werden soll. Das sollte einem bewusst sein, und dazu sollte man auch gleich am Anfang einer Beziehung unbequeme Konversationen haben, damit man weiß, wo wer steht. Und man sollte sich in jedem Stadium Gedanken darüber machen, Dinge zu regeln, beispielsweise mit einem Ehevertrag. Immer wieder, selbst hier in Amerika, kommt es vor, dass ganz wohlhabende Frauen, die nicht besser verheiratet sein könnten, null Ahnung von den Finanzen haben. In einem Frauenclub, an dem sehr wohlhabende Frauen teilnehmen, ging es einmal auch über Finanzen. Dabei wurde gefragt, wer weiß, wieviel auf dem gemeinsamen Girokonto ist? Keine wusste es. Egal wie man dasteht, ob gut oder schlecht, als Frau muss man sich auf jeden Fall einbringen in die Planung und Handhabung der Finanzen. Das ist ganz wichtig. Beruflich sollte man sich darüber klar sein, dass der Weg de facto für eine Frau oft beschwerlicher ist. Davon muss man sich aber nicht abhalten lassen. Da kommt es eben ganz auf die Persönlichkeit an. Wenn man sehr empfindsam und sensibel ist, dann ist es vielleicht nicht das beste in ein testosterongesteuertes, aggressives Umfeld wie die Finanzwelt zu gehen. Oder man sollte sich zumindest im Klaren darüber sein, dass da mit harten Bandagen gekämpft wird. Für eine junge Frau von heute sind die Tipps, die man vor 20 Jahren gegeben hat, jedenfalls sicher nur noch beschränkt anwendbar.


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